Premiere 19.09.2009 › Schauspielhaus

Romeo und Julia (2009)

von William Shakespeare
Deutsch von August Wilhelm Schlegel
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Annika Schilling, Sascha Göpel
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Stefko Hanushevsky, Thomas Schumacher, Sophia Löffler, Sascha Göpel
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Sebastian Wendelin, Annika Schilling, Sascha Göpel, Sophia Löffler
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Eike Weinreich, Henner Momann, Thomas Schumacher, Sophia Löffler, Hintergrundvideo: Sophia Löffler und Sebastian Wendelin, Sascha Göpel, Stefko Hanushevsky, Sebastian Wendelin
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Sebastian Wendelin, Stefko Hanushevsky, Sascha Göpel
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Sebastian Wendelin, Stefko Hanushevsky, Sascha Göpel
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Eike Weinreich, Sebastian Wendelin, Ahmad Mesgarha, Henner Momann, Cathleen Baumann
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek, Sascha Göpel, Henner Momann, Annika Schilling
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Annika Schilling, Wolfgang Michalek
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Ahmad Mesgarha, Sebastian Wendelin, Henner Momann, Annika Schilling, Wolfgang Michalek
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Ahmad Mesgarha, Henner Momann, Sebastian Wendelin, Annika Schilling
Foto: Matthias Horn
Romeo und Julia (2009)
Auf dem Bild: Annika Schilling, Sascha Göpel
Foto: Matthias Horn

Handlung

Eingeladen zum Theaterfestival „Radikal jung 2010“ in München

Romeo und Julia sind Sprösslinge zweier aufs Blut verfeindeter Familien. In einer spannungsgeladenen und uneinsichtig kriegerischen Atmosphäre setzen sie ihre Liebe den familiären und gesellschaftlichen Zwängen entgegen – und ziehen am Ende den Selbstmord jedem Kompromiss vor. Der Tod verleiht ihrer idealistischen Liebe etwas Absolutes und bewirkt ein Umdenken in der Gesellschaft: Der unendliche Ruhm des Stückes basiert aber vor allem darauf, dass es beinahe jeder Generation seit 400 Jahren immer wieder gelungen ist, diese archetypische Geschichte für ihre jeweilige Zeit heutig, modern und wie neu zu erzählen. Beim jungen Regisseur Simon Solberg sind die verfeindeten Familien Angehörige von zwei konkurrierenden Firmen zwischen denen das Liebespaar aufgerieben wird. Eine wilde, unbändige Mischung aus spielerischem Spaß, menschlichen Konflikten, zeitgenössischer Coolness und einem berührenden klassischen Text des größten Theaterdichters aller Zeiten.

Besetzung

Regie / Kampfchoreografie
Simon Solberg
Bühne
Simeon Meier
Licht
Gunter Hegewald
Dramaturgie
Jens Groß
Stimme des Prinzen von Verona
Fabian Gerhardt
Paris, ein junger Edelmann
Matthias Luckey
Capulet
Montague, Vater von Romeo
Olaf Hais
Romeo, Montagues Sohn
Sascha Göpel
Mercutio, Romeos Freund
Stefko Hanushevsky
Benvolio, Romeos Freund
Julia Keiling
Tybalt, Neffe des Capulet
Sebastian Wendelin
Tybalt, Neffe des Capulet alternierend
Christian Clauß
Bruder Lorenzo, ein Franziskaner
Wolfgang Michalek
Abraham, Diener im Hause Montague
Christian Clauß
Abraham, Diener im Hause Montague alternierend
Robert Höller
Gregorio, Diener des Capulet
Andreas Hammer
Frau Montague, Mutter von Romeo
Regina Felber
Julia, Capulets Tochter
Annika Schilling
Julias Amme
Cathleen Baumann

Video

Über das Stück

Gespielt, gebastelt, gefunden und gelebt

Eine erste Begegnung mit dem Regisseur Simon Solberg
von Jens Groß
Vor ungefähr sechs Jahren, beim Besuch einer Vorstellung in Düsseldorf, fiel mir ein junger, athletischer, leidenschaftlicher und dennoch höchst disziplinierter Schauspieler auf, den ich nach der Vorstellung sofort kennenlernen wollte. Der junge Mann hieß Simon Solberg, saß in Hip-Hop-Kleidung vor mir, trank keinen Alkohol und war Schauspielschüler an der Folkwang Hochschule in Essen. Ich fragte ihn, ob er Interesse hätte, nach der Schule ans Schauspiel Frankfurt ins Ensemble zu kommen. Mein Angebot schmeichle ihm, aber da sei ich bei ihm leider an der falschen Adresse. Er habe nicht vor, als Schauspieler zu arbeiten. Er würde sich freuen, wenn ich ihn engagieren würde, aber als Regisseur. Nur auf der Bühne stehen, das reicht mir nicht, mich interessiert das große Ganze, die Aussage eines Stückes, eines Abends. Ich glaube an so Dinge wie die große Liebe und die Veränderbarkeit der Welt; und ich will den größtmöglichen Einfluss auf die Suche danach haben. Ich habe Schauspiel studiert, damit ich nicht als Polier auf den Bau komme, ohne erfahren zu haben, wie es ist, Maurer zu sein. Dank der Schauspielausbildung weiß ich, dass es die Hölle sein kann, drei Meter auf der Bühne zurückzulegen, wenn man nicht bei jedem Schritt genau weiß, was man da oben macht und vor allem warum. Zu wissen, wie sich diese Suche, diese Nacktheit auf der Bühne anfühlt, ist, meiner Meinung nach, elementar, wenn man erreichen will, dass die Schauspieler mit einem gemeinsam eine imaginäre Grenze überschreiten, inhaltlich und ästhetisch.

Anderthalb Jahre später bekam Simon Solberg das Angebot, als Regieassistent am Schauspiel Frankfurt anzufangen. Schnell war seine Affinität zu dem damaligen Hausregisseur Armin Petras ersichtlich, dieser entdeckte und förderte seinerseits Solbergs außergewöhnliches Talent für die Choreografie von Fecht- und anderen Kampfszenen. Doch am meisten überraschte, wie übergangslos der junge, wild und chaotisch aussehende Assistent den Theaterapparat und seine Mitarbeiter für sich gewinnen konnte. Vor allem die jungen Schauspieler des Ensembles drängten darauf, mit ihm arbeiten zu können. So kam es, dass Simon Solberg sehr schnell eine erste Talentprobe am Schauspiel Frankfurt ablegen durfte. Seine erste Inszenierung Odyssee reloaded wurde ein Geheimtipp für Frankfurter Nachtschwärmer, darauf folgten größere Inszenierungen wie Kleists Familie Schroffenstein und Cervantes Don Quijote, beides Arbeiten, die auf Anhieb Einladungen aus dem In- und Ausland erhielten und auf Talentfestivals wie Radikal jung in München die Kritik ebenso wie ein überwiegend junges Publikum überzeugten.

Inzwischen inszeniert Solberg regelmäßig in Frankfurt, Mannheim, München und Berlin. Jürgen Berger, Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, schrieb vor Kurzem: Spätestens seit Don Quijote können die Frankfurter bemerken, dass da ein 28-jähriger Regisseur auf dem besten Wege in Richtung erste Regieliga ist. Der Mann lässt dem Zuschauer keine Chance und nötigt ihm intellektuell anspruchsvolle Unterhaltung auf, indem er auf das Prinzip Fantasie setzt, dabei aber nicht willenlos im weiten Land der Assoziationen schweift, sondern seine Inszenierung immer nah am Stück oder der Romanvorlage entwickelt. Bemerkenswert ist, dass Solberg die Abenteuer des Quijote zum Beispiel auf der Grenze von fiktionaler Medien- und tatsächlicher Bühnenwelt inszeniert. Simon Solberg umspielt raffiniert die Schnittstelle von Film und Bühne, indem er den Don Quijote zusammen mit seinem Sancho Pansa von der Bühne verschwinden und in einzelne Leinwandabenteuer abtauchen lässt, bevor sie vom Abenteuer wieder ausgespuckt werden und durch die Leinwand auf die Bühne hechten.
Bei Solberg wird nicht einfach nur erzählt, sondern rasant gespielt, gebastelt, gefunden und gelebt. Aus Kleists sprachmächtigem Drama Die Familie Schroffenstein wird in Frankfurt kraftvoll-körperliches Sinnentheater. Akrobaten, Capoeira-Tänzer und Hip-Hop-Musiker aus der Stadt spielen gemeinsam mit Ensemblemitgliedern den Konflikt der Häuser Warwand und Rossitz als Bandenkrieg, in dem es nicht mehr um die Verteidigung von familiären Besitztümern, sondern bereits um die Vorherrschaft globalisierter Wirtschaftsinteressen und den Widerstand dagegen geht. In Don Quijote stemmt sich der Protagonist statt gegen Windmühlen gegen die Zahnräder des Kapitalismus, in diesem Fall das Hochhaus der Commerzbank in Frankfurt. Einen anderen Teil seiner Abenteuer erlebt er im virtuellen Raum als Mitspieler und Zielscheibe eines Videospiels. Und das Erstaunliche: Diese wilde, unbändige Mischung aus spielerischem Spaß, zeitgenössischer Coolness, Gesellschaftskritik und berührenden Momenten funktioniert; es ist unbändiges, lebendiges Theater, das bei jedem Publikumsgespräch zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen führt. Simon Solberg liebt Publikumsgespräche: Da kann man dann endlich auch mal sagen: Bis zu dieser Stelle sind wir gekommen, da wussten wir auch nicht weiter. Da kann man feststellen, was die Zuschauer bewegt und was nicht, wo sie bereit sind, mitzugehen, und wo nicht. Besonders schätzt er zudem die Techniker als Stimmungsbarometer. Wenn sie gerade Pause haben und nicht rauchen gehen, sondern gebannt oder amüsiert sitzen bleiben, dann weiß ich, dass wir auf einem guten Weg sind.

Bei allem Polit-Pop, bei aller Hip-Hop-Bastelei und medientechnischer Raffinesse sind Solbergs Inszenierungen vor allem aber Schauspielertheater. Die Schauspieler und die Arbeit mit ihnen stehen absolut im Zentrum: Sie werden gefragt, werden motiviert, gemeinsam Grenzen zu überschreiten, aber auch gemeinsam gegen vorgefertigte Hierarchien und Strukturen anzutreten. Solberg inszeniert mit einer Mischung aus Vorgaben und einem hohen Anteil an Improvisation. Welche Methode die Oberhand gewinnt, liegt oft an den jeweiligen Verfasstheiten. Wenn ein Schauspieler morgens zum Beispiel noch nicht so ganz wach ist, ist er dankbar für ein Gerüst oder einen Einfall des Regisseurs. Andererseits profitiere ich als Regisseur sehr von szenischen Angeboten, weil mich jeder Vorschlag wieder zu weiteren Ideen führt. Das ist auch wieder ein Grund, warum ich Theater mache: weil alles über das Spiel geht, über das Ausprobieren, Basteln, Erfinden. Und am Ende stehen dort dann plötzlich eine echte Haltung und echtes Gefühl.

Braucht man einen Balkon?

Romeo und Julia - oder: Braucht man einen Balkon, um zu lieben?

Wer denkt nicht, wenn er Romeo und Julia hört, an die berühmte Balkonszene im mittelalterlichen Verona?
Julia, hoch oben gefangen im Netz der Konventionen des reichen Hauses Capulet und unten der liebestolle Romeo, Sohn des verfeindeten Nachbarhauses, der sein Leben leichtfertig aufs Spiel setzt, um seine eben erst geküsste Julia noch einmal zu sehen.

Im Moment der Balkonszene scheint alles möglich: Die Welt könnte sich verändern, Romeo könnte den hinderlichen Namen Montague ablegen, Julia könnte ihrem goldenen Käfig via Balkon entfliegen. Doch wie zusammenkommen? Nichts leichter als das: Zwei Liebende sind bereit, für ihre Liebe alle Grenzen und Hindernisse zu überwinden, koste es auch das Leben. Und wer möchte nicht gerne lebendiger als lebend tot sein? Tragischerweise sind die beiden berühmtesten Liebenden der Weltliteratur faktisch mehr mit der Vorbereitung ihres Sterbens beschäftigt als mit dem Ausleben ihrer Liebe. Bekanntlich schaffen die beiden den Sprung ins Glück nicht ganz, aber die Utopie immerhin, dass es irgendwann gelingen möge, ist für alle Zeiten in unsere Köpfe und Herzen auf allen Balkonen der Welt eingepflanzt.
Shakespeare greift auf eine alte italienische Novelle zurück und tut so, als sei damit gewährleistet, dass es Romeo und Julia wirklich gegeben habe. Er beschreibt eine konkrete Stadt (Verona) in einer konkreten Zeit, einen scheinbar realen, immer möglichen Konflikt und einen sehr konkreten Balkon. Alles hätte so stattgefunden haben können, alles muss so stattgefunden haben.
Und so pilgern noch heute Tausende Literaturliebhaber nach Verona, um den berühmtesten Balkon der Welt zu sehen. Es gibt ihn also? Und auch wieder nicht. Denn das Haus, das heute in jedem Reiseführer Veronas als Haus der Julia Erwähnung findet, war noch vor hundert Jahren ein Stall. Eine reiche Veroneser Familie hat hier nie gewohnt, geschweige denn Julia. Und dann die Sache mit dem Balkon. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Veroneser es schlicht leid, den Menschen aus aller Welt den Umstand zu erklären, dass es den berühmten Balkon nicht gibt. Einfacher schien die Lösung, ein recht hübsches Exemplar in einen repräsentativen Hinterhof einzubauen. Kurzerhand wurde ein alter Sarkophag an die Fassade gezimmert, in dem die Überreste von Julia liegen sollen und zu dem nun Millionen begeisterte Besucher in jedem Jahr wie zu einer Reliquie pilgern. Eine Illusion, ein Spiel mit Bildern, das die Menschheit offensichtlich braucht.
Brauchen wir also für das Nachempfinden Verona im Mittelalter den Balkon vor einer steinernen Wand, wallende Gewänder, eine ferne anheimelnde Welt des entrückten Traums? Verkennt man damit nicht ganz einfach den eigentlichen Fakt, warum so ein Stück über 400 Jahre auf den Bühnen der Welt überlebte? Überlebte es nicht eher, weil es zum einen auf einer archetypischen Sehnsucht basiert, zum anderen weil es jeder Generation immer wieder aufs Neue gelang, mit dem alten Stoff ihre jeweils eigene Welt abzubilden?
Um Shakespeares Sprache weiterhin als konkret und direkt wahrnehmen zu können, muss man immer wieder gegenwärtige Bilder und Metaphern dafür suchen. Das Wichtigste ist die immer mögliche Gegenwärtigkeit, die Relevanz dieser alten Geschichte für das Heute. Shakespeare hat ein Stück für seine Zeit geschrieben. Für die damaligen Zuschauer war es ein Stück aktueller Gegenwart. Wir versuchen heute wieder, Aktuelles damit zu verhandeln. Wir versuchen nicht anders als Schlegel, dessen Übersetzung wir als Grundlage verwenden, im Sprachstil seiner Zeit -, den Text zu verstehen, und das, was wir verstanden haben, mit unseren eigenen Assoziationen und Bildern verständlich wiederzugeben. Möglich, dass der Balkon von Verona in Dresden anders aussieht als erwartet, möglich, dass der Beat der Jugend ein ganz anderer ist, dass Hubschrauberklänge und Polizeisirenen den Gesang der Nachtigall oder Lerche verdrängen, sicher aber ist und bleibt, dass ein immer heutiges junges Liebespaar alles auf eine Karte setzt, um letzten Endes seinen Traum in einer lebensfeindlichen Welt zu leben, um lebendig zu sein, lebendiger vielleicht, als es erlaubt erscheint.

Jens Groß

Im Gespräch

Da sind wir der shakespeareschen Tradition treu geblieben

Ein Gespräch zwischen dem Regisseur Simon Solberg, dem Bühnenbilder Simeon Meier und dem Dramaturgen Jens Groß
Jens Groß: Was ist für dich gegenwärtiges Theater?

Simon Solberg: Gibt es anderes Theater?

Jens Groß: Möglicherweise gibt es zumindest einen Streit darum, was Theater sein sollte. Der Autor Daniel Kehlmann hat, wie viele andere vor ihm, auf der Eröffnungsrede der diesjährigen Salzburger Festspiele eingeklagt, dass es zu wenig Demut der ausführenden Theaterkunst gegenüber den Texten gäbe, dass das moderne Regietheater (im Gegensatz zum geforderten Autorentheater, das Schauspielertheater erwähnt er gar nicht) den Bezug zum Existentiellen verloren habe und alles mit sinnverfremdenden Gezappel und blindem Aktionismus zukleistere.

Simon Solberg: Tut mir leid, ich kenne die Rede nicht und könnte persönlich keine Einteilung in Theaterkategorien vornehmen, denn ohne auch nur eine der genannten Disziplinen wären wir nicht schau-spielfähig. Ein Fußball-Team z.B. besteht ja auch nicht nur aus Abwehr, Mittelfeld oder Sturm. Ich persönlich wäre bei dieser Dreiteilung eher an einer vierten Variante interessiert, die nur entstehen kann, wenn Autoren, Schauspieler und Regisseure gemeinsam Theater machen.

Jens Groß: Nun gut, im kehlmannschen Sinne könnten man bei dieser Inszenierung Romeo und Julia durchaus von mangelnder Demut sprechen. Das alte Stück Romeo und Julia spielt deutlich nicht im Verona des 15. Jahrhundert ...

Simeon Meier: Demut ja, Mangel bestimmt auch, Verona nein. Zumal, meines Wissens, keiner weiß, ob Shakespeare überhaupt jemals in Verona gewesen ist. Da das aber im Publikum auch keiner weiß, haben wir versucht, einen neutralen Ort zu kreieren, in dem es genug gedanklichen Raum gibt für Versatz-Stücke aus allen möglichen Städten und Welten, die uns heute umgeben, in denen die Konflikte des Stückes denkbar wären.

Jens Groß: außerdem kommen an einigen Stellen Texte vor, die man sicherlich in keiner Übersetzung wieder finden wird.

Simon Solberg: Ja, da sind wir der shakespeareschen Tradition treu geblieben. Da ja jeder Übersetzer des sowieso schon nur zusammengetragenen Ur-Materials, wie z. B. Schlegel im 18. Jahrhundert, den Text nach seinem jeweiligen zeitgenössischen Verständnis übersetzt hat. Das gleiche haben wir, jedenfalls in kleine Passagen, auch gemacht, eben von schlegelisch in heutig.

Jens Groß: Man könnte sich aber fragen, wenn der alte Text und dessen Welt nicht ausreicht, um ein Heute zu erzählen, dann spielt doch moderne Stücke oder schreibt doch gleich selber Stücke.

Simon Solberg: Selber schreiben wäre zum einen unfassbar anmaßend und zum anderen geht es in meinem Fall selten über eine Nabelschau von Charakteren aus meinem Sozialisations-Hintergrund hinaus. Moderne Stücke erreichen in meinen Augen fast ausnahmslos nicht die Archaik und Poesie klassischer Texte. Aber einen ebensolchen, starken Text braucht man, finde ich, wenn man Geschichten erzählen will, die über den eigenen Erfahrungshorizont hinausgehen. Allerdings bedeutet das im Falle eines Theatertextes nicht, dass er unantastbar ist, nur weil jemand anderes versucht hat, seine Empfindungen und Erfahrungen Figuren in den Mund zu legen. Denn die Schauspieler dieser Figuren müssen die Texte sagen können, als wären sie ihre, und sie somit manchmal verdrehen, erweitern, entschlacken. Deswegen empfinde ich jeden Text für das Theater als Gebrauchstext im Dienste einer Geschichte, die es nach bestem Wissen und Gewissen aller Beteiligter zu erzählen gilt.

Jens Groß: Verstehst du deinen Umgang mit klassischen Texten als einen Brückenschlag von der Vergangenheit in die Gegenwart?

Simon Solberg: In die Zukunft. Im Ernst, ich habe das Dilemma, nur aus meiner Zeit heraus erzählen zu können, da ich nichts anderes kenne. Ich kann nur darüber Geschichten erzählen, was mich oder Leute in meinem Umfeld, meiner Generation etc. im Jetzt berührt. Und so nähere ich mich den Texten. Die Folge ist eine fortwährende Neuorientierung zwischen logisch Linearem, Widersprüchlichkeiten, Übersprungshandlungen zwischen psychologisch realistischem Spiel und Comic. Ich vertraue auf die gegenseitige Befruchtung dieser emotionalen Samples unserer Sozialisation, um Gefühle und Konflikte eines klassischen Textes zu beschreiben und so die Schmerz-Zentren eines Stückes freizulegen. Im besten Fall hat dieses Spiel zwischen den Welten ein ständiges Neuorientieren des Zuschauers zur Folge, der sich nie auf die Stringenz einer Figur verlassen kann, sondern sich in Augenblicken mit jedem der Charaktere identifizieren kann. Das ist in meinen Augen die große Stärke des Theaters.

Jens Groß: Du glaubst also an eine visionäre Kraft des Theaters?

Simon Solberg: Nicht in dem Sinne, dass man zeigen könnte, wie es einmal sein wird, aber durchaus im Sinne eines Spiels der Möglichkeiten, wo viele Zeiten / Menschen / Ästhetiken alles in einen Topf werfen und hinten etwas herauskommt, was nicht unbedingt kalkulierbar oder vorhersehbar war.

Jens Groß: Frage an den Bühnenbildner: Wie geht es dir mit Gegenwärtigkeit und Visionärem? Wäre es für dich vorstellbar, z. B. Romeo und Julia in einem historischen Ambiente auszustatten?
Simon Solberg: Wir loten zusammen die Schmerz-Zentren für so einen Stoff aus, und die sind über alle Zeiten hinweg oder alle Diskussionen über gegenwärtig oder nicht hinaus immer gültig. Und genau da nehmen wir den Stoff sehr ernst.

Simeon Meier: Vorstellbar wäre es durchaus. Mir fiele das nur erst mal genauso wenig ein wie Simon. Ich habe zuerst einmal Bilder im Kopf nach der Lektüre des Stoffes, Assoziationen, Farben, alles Mögliche, noch wenig Zusammenpassendes. Das kommt dann erst nach und nach, vor allem nach den ersten Gesprächen mit dem Regieteam. Meistens unterhält man sich dort viel weniger darüber, wie es damals in Verona aussah, als darüber, was die für uns wichtigen Schmerz-Zentren sind und welche Bilder es dafür gibt.

Simeon Meier: Und diese Schmerz-Zentren bestimmen dann auch die Elemente eines Bühnenbildes. Wenn man z. B. wie in Romeo und Julia darauf kommt, dass ein wesentlicher Schmerzpunkt der Umgang mit Macht ist, dann überlege ich, wie ich Macht sichtbar machen kann. In unserem Falle haben wir uns schnell auf den Zusammenhang von Macht und Statussymbolen verständigt. Man sieht also zwei Familien, die sich bekriegen und sich mit immer größeren und teureren Statussymbolen umgeben. Das war zu Zeiten Shakespeares nicht anders als heute, die Statussymbole von damals sahen höchstens anders aus. Das lässt irgendwann ­natürlich sehr wenig (Über-)Lebensraum. Irgendwo musste also noch eine unantastbare Insel sein, eine Arche, ein Raum der Hoffnung, ein Raum der Begegnung, der auch die Unproportionalität der Machtansprüche vor Augen führt.

Jens Groß: Klingt nach einem äußerst naturalistischen Bild.

Simeon Meier: Realistisch würde ich eher sagen. Inhaltlich wird etwas sehr Realistisches erzählt, und die Objekte auf der Bühne sind ganz realistisch ihren Vorbildern nachempfunden, und dennoch sind sie eine Behauptung, stehen für etwas, sind mehr als nur naturalistisch. Sie sind möglicherweise ein wenig zu groß oder zu klein, sind aus merkwürdigen Materialien gefertigt, haben möglicherweise andere Farben, als man sie kennt, beschreiben ihre eigene Welt, emotionalisieren auf ihre Weise, wenn es z. B. für einen Menschen auf der Bühne nicht mehr möglich ist wie sonst -, sich ohne Mühe auf die Kühlerhaube z. B. eines Autos zu setzen, sondern wenn er dazu tatsächlich hochsteigen muss, obwohl dem Zuschauer vorher kaum aufgefallen ist, dass das Auto doch etwas zu groß ausgefallen ist. Plötzlich ist das Statussymbol Auto tatsächlich sichtbar mächtig. Solche Möglichkeiten auf der Bühne liebe ich.

Jens Groß: Würdet ihr sagen, wir machen politisches Theater?

Simon Solberg: Achtung Reizwort. Wieder eine kategorische Schublade. Herr Kehlmann, bist du es?

Jens Groß: Ich meine eine Art von Theater, die die Hoffnung hat, gesellschaftliche Dinge verändern zu können.

Simon Solberg: Ja. Klingt komisch, ist aber so.

Jens Groß: Würde deine Inszenierung von Romeo und Julia in einer anderen Stadt anders aussehen als in Dresden?

Simon Solberg: Ja und nein. Wahrscheinlich wäre von der Konzeption her der inhaltliche Ansatz woanders ein ähnlicher, aber das Ergebnis der Arbeit wird von der Konstellation von Menschen bestimmt, die sich zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Stadt treffen und sich inspiriert durch ihr Umfeld gemeinsam auf die Suche machen.

Simeon Meier: Und man kann ja gar nicht anders, als sich mit den Dingen um einen herum auseinander zu setzen. Natürlich fielen Simon und mir bei unserem ersten Besuch in Dresden als erstes die vielen NPD-Wahlplakate auf ...

Simon Solberg: ... und die gesprühten Schriftzüge der Dynamo-Hooligans. Zum Beispiel 28. 10. Lok töten oder Aue verrecke oder auch Jude Aue. Natürlich fließen solche Erfahrungen mit in eine Inszenierung ein.

Jens Groß: Inwiefern? Gibt es Nazis in deiner Romeo und Julia-Inszenierung?

Simon Solberg: Es gibt Verhaltensweisen, die an Nazis erinnern. Wobei für mich der Begriff Nazi weniger für Menschen mit rechter Propaganda im Kopf steht, als für die Art, wie wir uns aktiv oder passiv in scheinbar gegebene Machtstrukturen einordnen, ohne diese zu hinterfragen oder uns dazu zu verhalten weil es einen gesellschaftlichen Konsens zu geben scheint, der das unethische Verhalten vieler rechtfertigt. Der gemeingefährliche Alltags-Nazi begegnet uns überall, vom manipulierenden Heuschreckenkapitalisten bis zum blind konsumierenden Mitläufer, und in einer solchen Welt bleibt die Liebe letztlich der einzige Gegenentwurf, aus dem man die Kraft und Mut für Utopien und andere, von der Norm abweichende Lebensmodelle ziehen kann auch wenn sie, bedingungslos gelebt, wie im Fall von Romeo und Julia, den Tod als Konsequenz zur Folge haben können.

Dresden, 2. September 2009