Uraufführung 01.10.2011 › Schauspielhaus

Das steinerne Brautbett

nach dem Roman von Harry Mulisch
Deutsch von Gregor Seferens
Für die Bühne eingerichtet von Stefan Bachmann und Felicitas Zürcher
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Karina Plachetka
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek, Karina Plachetka
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Karina Plachetka, Wolfgang Michalek
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Ahmad Mesgarha, Wolfgang Michalek, Annika Schilling, Torsten Ranft, Stefko Hanushevsky
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek, Torsten Ranft
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Karina Plachetka
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Ahmad Mesgarha, Stefko Hanushevsky, Karina Plachetka, Wolfgang Michalek, Torsten Ranft
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Karina Plachetka, Torsten Ranft, Hannelore Koch, Ahmad Mesgarha, Annika Schilling, Lars Jung, Stefko Hanushevsky, Wolfgang Michalek
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek, Annika Schilling
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Wolfgang Michalek
Foto: David Baltzer
Das steinerne Brautbett
Auf dem Bild: Ensemble
Foto: David Baltzer

Handlung

Dresden 1956. In der jungen, aufstrebenden DDR findet ein internationaler Zahnarztkongress statt, zu dem Teilnehmer aus Ost und West eingeladen sind. Auch Norman Corinth aus den usa ist Gast in Dresden. Doch obwohl der Amerikaner das erste Mal auf deutschem Boden steht, ist er nicht das erste Mal in Deutschland: Als Bomberpilot war er am 13. Februar 1945 an der Zerstörung Dresdens beteiligt und wurde dabei abgeschossen. Am Rande des Kongresses macht er sich an die Erkundung der Vergangenheit und trifft dabei auf lauter andere Versehrte. Mit der Eroberung Hellas, Dolmetscherin des Kongresses, wiederholt er dabei Angriff und Zerstörung Dresdens auf privater Ebene.
Mit unbestechlichem Blick zeigt Harry Mulisch die Verwundung der Menschen durch den Krieg, und zwar auf beiden Seiten, und stellt so die Frage nach Opfern und Tätern neu – etwas, was Dresden bis heute beschäftigt.

Besetzung

Regie
Stefan Bachmann
Bühne
Simeon Meier
Kostüme
Barbara Drosihn
Musik
Jan Maihorn
Video
Christoph Menzi
Dramaturgie
Felicitas Zürcher
Norman Corinth
Wolfgang Michalek
Hella Viebahn, Dolmetscherin des Zahnarztkongresses
Ludwig, Pensionsinhaber / Frank / Ein Senegalese
Günther, Chauffeur / Harry
Stefko Hanushevsky
Eugène / Patrick / Karin, Assistentin
Annika Schilling
Erzählerin / Doktor Tsch’wè Unsang, ein Koreaner / Dresdnerin
Alexander Schneiderhahn, Kongressteilnehmer / Archie / Xingu, ein Hund
Professor Doktor Karlheinz Ruprecht / Dresdner / Portier
Lars Jung

Video

Pressestimmen

„Mit ganz einfachen Theatermitteln und dem bravourösen Ensemble trifft Stefan Bachmann Mulischs Roman ins heißkalte Herz und ins poetische Hirn: ein Glücksfall, fern jeglicher Gedenkroutine.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Irene Bazinger
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„Und wer auch immer Mulischs Buch ausgegraben und die Idee zu dieser Adaption hatte, soll hier ausdrücklich gelobt werden. Denn in seinem bereits 1959 veröffentlichten Werk – mithin zehn Jahre vor Kurt Vonneguts „Schlachthof 5“ – konfrontiert der niederländische Autor die unterschiedlichen Fakten, Meinungen, Argumente zur Zerstörung Dresdens und mischt unsentimental Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht. Ungeschoren bleibt niemand. Und wie bei Mr. Corinths Himmelsturz überhöht er die Ereignisse literarisch, philosophisch und religiös, verknüpft Homers ‚Ilias‘ mit den Erzählmethoden des Nouveau Roman und nicht zuletzt mit dem psychoanalytisch angereicherten Enthüllungsmuster der Detektivgeschichte: Der Täter kehrt an den Tatort zurück – und findet in der direkten Gegenüberstellung wenn schon nicht Vergebung, so doch eine Art Heilung seiner seelischen Verletzungen und Frieden vor den Furien seiner Erinnerung.
Stefan Bachmann, der mit der Dramaturgin Felicitas Zürcher auch die Textfassung des ‚Steinernen Brautbetts‘ einrichtete, nimmt die komplexe Materie auf spielerisch-leichthändige und phantasievoll-amüsante Weise ernst – ganz im Sinne von Harry Mulisch. Ohne Betulichkeit und Larmoyanz schickt er sein achtköpfiges Ensemble auf einen revuehaft beschwingten Horrortrip in die deutsche Vergangenheit. Übergangslos wechseln die zeitlichen und räumlichen Ebenen aus der subjektiven Perspektive Corinths, und Wolfgang Michalek in der Rolle dieses verwirrten amerikanischen Odysseus und arrogant verstörten Siegers stimmt gleich wieder mit ein, als wäre inzwischen nicht einiges Wasser die Elbe hinabgeflossen. Seine Eindrücke sind komisch, grotesk, erschütternd, und in Bachmanns Regie kommen sie allesamt unangestrengt beredt auf die Bühne.
Mit ganz einfachen Theatermitteln und dem bravourösen Ensemble trifft Stefan Bachmann Mulischs Roman ins heißkalte Herz und ins poetische Hirn: ein Glücksfall, fern jeglicher Gedenkroutine.“
Irene Bazinger, Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Wer mit der Hoffnung auf intelligentes, weder abgeklärtes noch besserwisserisches Theater in diese Inszenierung geht, wird kaum zu enttäuschen sein.“
Frankfurter Rundschau, Dirk Pilz
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„So kann man den Abend also auch lesen: als Denk- und Erinnerungsherausforderung. Damit wird er zum Philosophiespiel und Geschichtsdrama. Wer mit der Hoffnung auf intelligentes, weder abgeklärtes noch besserwisserisches Theater in diese Inszenierung geht, wird kaum zu enttäuschen sein. ‚Das steinerne Brautbett‘, Bachmann, Dresden: Hier tut man gottlob nicht so, als hätte man die Vergangenheit im Griff, als wären die Widersprüche Material zum fluffigen Jonglieren.
Oder aber, es treibt einen die Lust auf pralles, zur Identifikation einladendes Sinnenspiel ins Theater. Auch hierfür hält dieser Dreistundenabend allerlei bereit, eine sirrend uneindeutig gehaltene Liebesgeschichte zwischen Corinth und der Übersetzerin Hella (sehr überzeugend: Karina Plachetka), einen Selbstbetrüger, der sich zum Kommunisten erklärt, aber von Nazi- Schuld nicht frei ist (Torsten Ranft).“
Dirk Pilz, Frankfurter Rundschau
„Punktgenau gearbeitetes Literaturtheater. Eine packende Gespensterbeschwörung über der Geschichte einer Stadt.“
nachtkritik.de, Ralph Gambihler
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„Punktgenau gearbeitetes Literaturtheater. Eine packende Gespensterbeschwörung über der Geschichte einer Stadt. Stefan Bachmann ist eine spannende, markante und für die nur langsam aus ihrem Trauma erwachende Stadt Dresden wichtige Inszenierung gelungen.“
Ralph Gambihler, nachtkritik.de
„Regisseur Bachmann gelingt eine erstaunlich elegante und zugleich witzige Inszenierung, ohne die Ernsthaftigkeit der Themen Zerstörung und Schuldhaftigkeit dabei aus den Augen zu verlieren.“
Deutschlandradio, Hartmut Krug
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„Regisseur Bachmann gelingt eine erstaunlich elegante und zugleich witzige Inszenierung, ohne die Ernsthaftigkeit der Themen Zerstörung und Schuldhaftigkeit dabei aus den Augen zu verlieren. Und wie hier alle Figuren in eine klare Uneindeutigkeit getrieben werden, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Täter und Opfer, das gibt dem Abend seine Spannung und Kraft.“
Hartmut Krug, Deutschlandradio
„In der Rolle von Norman Corinth ist Wolfgang Michalek zu sehen – ein Schauspieler, der allein schon mit seinem Gesicht sehr viel erzählen kann. Mal ist er ein zynischer Yankee, mal ein kritischer Geist, mal Verführer, mal nur ein menschliches Wrack.“
Dresdner Neueste Nachrichten, Bistra Klunker
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„Nach dem bekanntesten Roman mit Bezug auf die Bombardierung Dresdens, Kurt Vonneguts ‚Schlachthof 5‘ (uraufgeführt 2005 im Schauspiel Hannover), kam nun auch Mulischs Werk ‚Das steinerne Brautbett‘ zur Uraufführung auf die Bühne. In der Rolle von Norman Corinth ist Wolfgang Michalek zu sehen – ein Schauspieler, der allein schon mit seinem Gesicht sehr viel erzählen kann. Mal ist er ein zynischer Yankee, mal ein kritischer Geist, mal Verführer, mal nur ein menschliches Wrack. Karina Plachetka spielt die verführte, nach außen kühle und innen geschundene Hella sehr überzeugend in einer Skala zwischen eiskalt und glühend heiß.“
Bistra Klunker, Dresdner Neueste Nachrichten
„Bachmann geht umsichtig, fast zurückhaltend mit der Vorlage um. So forschend, wie das Buch um die Fragen nach Schuld und Vergessen kreist, so arbeitet sich Bachmann mit fast bildhauerischer Präzision an der Geschichte ab.“
Sächsische Zeitung, Johanna Lemke
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„Bachmann geht umsichtig, fast zurückhaltend mit der Vorlage um. So forschend, wie das Buch um die Fragen nach Schuld und Vergessen kreist, so arbeitet sich Bachmann mit fast bildhauerischer Präzision an der Geschichte ab. Der Amerikaner Corinth wird in Dresden von Wolfgang Michalek gegeben, eine sagenhaft passende Besetzung.“
Johanna Lemke, Sächsische Zeitung
„Bachmann belässt den Roman in seiner Erzählzeit von 1956, einer Zeit, als Dresden zwar aufgeräumt, aber noch längst nicht wieder aufgebaut war.“
Spiegel online, Anke Dürr
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„Bachmann belässt den Roman in seiner Erzählzeit von 1956, einer Zeit, als Dresden zwar aufgeräumt, aber noch längst nicht wieder aufgebaut war: ‚Die Bilder von damals erinnern an die Bilder von Rom im Mittelalter, als auf den überwucherten Ruinen Schafe geweidet haben.‘ Elf Jahre nach dem Krieg sei ‚der utopische Zenit‘ der neuen Republik schon überschritten gewesen, so der Regisseur, die repressive Atmosphäre der DDR überall zu spüren. Auch darum geht es in Bachmanns Inszenierung.“
Anke Dürr, Spiegel online
„Die Bühnenfassung überzeugt mit ihrer Mischung aus szenischem Dialogwitz, berichtendem oder philosophierendem Monolog, Chorpassagen und Erzählerinnen-Stimme.“
Wiener Zeitung, Joachim Lange
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„Die Bühnenfassung überzeugt mit ihrer Mischung aus szenischem Dialogwitz, berichtendem oder philosophierendem Monolog, Chorpassagen und Erzählerinnen-Stimme. Dazu findet Bachmann überzeugende Bilder der Erinnerung und eine denkoffene Haltung zum inneren oder ausgetragenen Diskurs, um persönliche Beteiligung und die moralischen Folgekosten des Krieges auf beiden Seiten.“
Joachim Lange, Wiener Zeitung
„Eine unterhaltsam wie routiniert am Original angesiedelten Geschichtsstunde.“
Theater heute, Eva Behrendt
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„Das schrammt scharf an der Grenze zu Kitsch und Klamauk vorbei, wenn dieses Flashback-Kommando Corinth ausgerechnet beim Geschlechtsakt mit Hella überfällt. Doch genauso hat es schließlich der alte Erotomane Mulisch gewollt, der der Grausamkeit des Krieges noch einen Sinn zu entlocken versuchte – um im übrigen allen Grund gehabt hätte, mit dieser so unterhaltsam wie routiniert am Original angesiedelten Geschichtsstunde zufrieden zu sein.“
Eva Behrendt, Theater heute

Marcel Beyer über „Das steinerne Brautbett“

Harry Mulisch, Heillosigkeit

von Marcel Beyer
Der Autor Marcel Beyer bezeichnete „Das steinerne Brautbett“ 2008 im Spiegel als „das Buch meines Lebens“ – es war eine Liebeserklärung an den Roman und ein Bekenntnis zur Stadt, wo „die Nerven offen liegen“, zu Dresden. Wir baten Marcel Beyer um einen Beitrag zu Mulischs Roman, den er nicht nur vor dem Hintergrund des 13. Februar 1945, sondern ebenso vor dem des aktuellen Weltgeschehens im März 2011 noch einmal und wieder in einem neuen Licht las.

Es gibt Bücher, die einen bei der ersten Lektüre erschüttern, und bei der zweiten, und bei der dritten, und noch nach der siebten Lektüre ist einem nicht im Leisesten klar, woher diese Erschütterung rührt, welcher Nerv da von Mal zu Mal gereizt wird, ohne je unempfindlich zu werden. Harry Mulischs früher Roman „Das steinerne Brautbett“ ist seit Mitte der 1990er-Jahre solch ein Buch für mich, und erst in den vergangenen Tagen – ich schreibe diese Sätze am 14. März 2011 – gewinne ich nach und nach eine Ahnung davon, was es mit den nicht einmal 200 angst- und zynismusgefüllten, in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre geschriebenen Seiten auf sich hat – warum ich sie immer wieder lesen muss, warum sie nicht aufhören, in meiner Erinnerung herumzugeistern.

Nach einer endlosen Irrfahrt durch ein Nichts namens Dresden im Jahr 1956 steigt die Hauptfigur Norman Corinth aus dem Auto und blickt in die nach allen Seiten sich ausbreitende Trümmerwelt, „die Überreste der Stadt: eine unüberschaubare Brandung von Schutthaufen“ – und ich gebe zu, es fällt mir nicht eben leicht, mir dieses durch und durch nihilistische Schlussbild des durch und durch nihilistischen Romans von Mulisch vor Augen zu rufen, hier in New York, wo ich mich derzeit aufhalte, wenige Tage nach meinem ersten Besuch an jener Stätte, die wir „Ground Zero“ zu nennen gewohnt sind, die unter den Rettungskräften jedoch immer nur „the pile“, „der Haufen“, genannt wurde, und während im Hintergrund der Fernseher läuft, weil ich auf neueste Nachrichten aus dem erdbebenerschütterten Japan warte.

Alle Bilder schießen zusammen: Eine Kolonne von Feuerwehrwagen windet sich durch die Trümmerlandschaft, die noch vor wenigen Tagen eine Stadt an der japanischen Ostküste war, und begegnet auf der Suche nach Leben Mulischs Antihelden, dem abgebrühten US-Mediziner und Exbomberpiloten mit dem entstellten Gesicht ebenso wie seinem Gegenspieler, dem westdeutschen Arzt mit dubioser Vergangenheit und noch dubioseren Sprüchen auf den Lippen.

Die Freunde in Tokio haben sich per Mail zurückgemeldet, sie sind zum Glück unversehrt, doch in diesen Stunden verfolge ich den Weg der – unsichtbaren – radioaktiven Wolke, die, wie es heißt, vom sich drehenden Wind vom Kernkraftwerk in Fukushima in Richtung Süden auf die japanische Hauptstadt zugeweht wird, und mit einem Mal ist mir die Atmosphäre gegenwärtig, in der der junge Mulisch seinen Roman schrieb, die alles beherrschende Furcht vor dem Dritten Weltkrieg, der, wie man sicher war, ein Atomkrieg sein würde, und im Hintergrund höre ich einen Nachrichtensprecher schwadronieren, in Japan zeichne sich schon jetzt ein nationales Trauma ab, „because they had to deal with the nuclear thing in ’45“, in dieser unerträglichen Mischung aus Abgebrühtheit und theatralischem Mitgefühl, und ich sehe wieder Norman Corinth vor mir, den Bomberpiloten in seiner Kanzel.

Abgebrühtheit höre ich auch aus der Versicherung einer anderen Nachrichtenstimme heraus, die radioaktive Wolke über Japans Küste stelle keine Bedrohung für die USA dar, doch im nächsten Moment überlege ich, wenige Kilometer von der Baustelle entfernt, die einmal das World Trade Center war, ob nicht eine solche Beruhigung hier weit größere Bedeutung hat, als sie es zum Beispiel im mir heute so fernen Deutschland hätte, wo schon wieder die notorischen schwäbischen Menschenketten gebildet und Jodtabletten gehortet werden, als sei man schlichtweg nicht in der Lage, an das Leid anderer Menschen zu denken, ohne dabei in erster Linie an sich selbst zu denken. So wie Mulischs zusammengewürfelte Gruppe von Teilnehmern am internationalen Medizinerkongress, die eines Nachts in einer Dresdner Spelunke auf Überlebende des 13. Februar 1945 trifft, sich deren Geschichte halb betroffen, halb angewidert anhört, um das Grauen der anderen sogleich im Bierrausch zu ertränken, und dann gibt es einen Streit, eine Schlägerei – und vom Grauen der anderen bleibt nicht viel mehr als eine diffuse Erinnerung an Gewalt und die selbstgerechte Gewissheit, dass sich jeder Mensch irgendwie als bedroht und beschädigt betrachten kann.
Die Abgebrühtheit, der Aktionismus oder das Triumphgrinsen, zu dem sich Norman Corinths entstelltes Gesicht zu verziehen scheint, wenn er tatsächlich einmal versucht zu lächeln: alles Versuche, die eigene Hilflosigkeit in den Griff zu bekommen, wenn das Leben um einen herum aus der Bahn gerät, sei es aufgrund einer Naturkatastrophe, sei es aufgrund menschengemachten Unheils. Im „Steinernen Brautbett“ wüsste keiner der Romanprotagonisten zu sagen, ob er Bewohner einer postapokalyptischen Welt ist oder ob die Welt auf eine Apokalypse zusteuert, so wie auch niemand zu sagen wüsste, ob man für die im Roman stets untergründig gegenwärtige, die bevorstehende Nuklearkatastrophe am Ende den Menschen oder die Natur verantwortlich machen wird. Dass Mulisch für seine Erzählung aus drei Dresdner Herbsttagen im Jahr 1957 ausgerechnet einen internationalen Medizinerkongress inszeniert, gehört zu seinem bitter ironischen Spiel. Das frühere Heilstättenparadies, an dem noch das „Heil“ einer erst vor wenigen Jahren zu Ende gegangenen Epoche widerhallt, beherbergt – als Trümmerstätte – Koryphäen aus aller Welt, die sich der Heilung verschrieben haben. Doch vom ersten Blick an, den uns Mulisch auf seinen Antihelden gewährt, ist klar: Dieser Mann kennt weder Heilungs- noch Heilsversprechen.

Alles ist Heillosigkeit in diesem Roman. Da nützt es auch nichts, dass sich die Dolmetscherin Hella, vom Protagonisten zugleich merkwürdig angezogen und abgestoßen, mit zeitgemäß munter-verbissener Aufbaurhetorik über Wasser zu halten versucht: Sie ist die Ariadne, die den Kongressbesucher durchs Elbtal, das steinerne Brautbett, geleitet, sie ist, für die Dauer einiger Tage, die „Braut von Corinth“, jener junge weibliche Geist aus Goethes Zombieballade, der sich gegen die Gesetze der Welt zu stemmen versucht, gegen die weder die Lebenden noch die Toten etwas ausrichten können. Allerdings könnte ihr Erscheinen inmitten der Heillosigkeit auch darauf hindeuten, dass es sich bei ihr um eine bloße Halluzination handelt, um die Halluzination eines Mannes namens Corinth, der sich nicht eingestehen kann, dass er ohne Hoffnung nicht überleben wird.

Marcel Beyer, geboren 1965, beschäftigt sich in seinen Gedichten, Essays und Romanen immer wieder mit der deutschen Geschichte, insbesondere mit dem Nationalsozialismus. Seit 1996 lebt der Autor in Dresden. Zuletzt erschienen sein Roman „Spione“ und der Dresden-Roman „Kaltenburg“. Sein Beitrag zu „Das steinerne Brautbett“ schrieb er als Originalbeitrag für diese Inszenierung.

Harry Mulisch wurde 1927 im niederländischen Haarlem als Sohn eines österreichischen Offiziers und einer deutschen Jüdin geboren und starb 2010 in Amsterdam. Seine persönliche Geschichte und die historischen und politischen Verwicklungen seiner Zeit prägten maßgeblich sein literarisches und journalistisches Werk. In unterschiedlichen Formen – von der Lyrik über Dramen und Libretti bis zum Roman – hat er sich intensiv mit dem Verhältnis von Geschichte und Individuum auseinandergesetzt. Weltweit bekannt wurde er vor allem mit seinem Roman „Die Entdeckung des Himmels“. Er gilt als der bedeutendste niederländische Nachkriegsautor.