Premiere 03.12.2016
› Schauspielhaus
Jeder stirbt für sich allein
Handlung
Berlin im Jahr 1940. Das Ehepaar Otto und Anna Quangel erfährt durch einen Brief vom Tod des einzigen Sohnes, der als Soldat an der Front gefallen ist. Damit endet das unpolitische Leben der beiden Eheleute, und sie beschließen, etwas gegen das Regime zu unternehmen: Auf über 200 Postkarten schreiben sie Aufrufe zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Führung und gegen den Krieg und verteilen die Karten in der Stadt. Obergruppenführer Prall setzt Kriminalkommissar Escherich auf den Fall an und fordert rasche Aufklärung. Der Ehrgeiz des Kommissars und die falsche Bezichtigung einer Sprechstundenhilfe treiben den verdächtigten Kleinkriminellen Enno Kluge in den Selbstmord. Denunziationen, Diebstähle und Betrug zerstören die Hausgemeinschaft der Quangels und führen zu mehreren Todesfällen und schließlich zur Verhaftung der Ehepartner und zu ihrer Hinrichtung.
JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN basiert auf einer wahren Begebenheit im Berlin der 1940er Jahre und entwickelt aus der dichten Beschreibung einer Hausgemeinschaft ein düsteres Gesellschaftspanorama. Hans Fallada hat seinen Roman kurz nach Kriegsende und wenige Monate vor seinem Tod in vier Wochen zu Papier gebracht. Die ungekürzte Fassung ist erst im Jahre 2011 erschienen und zu einem internationalen Bestseller geworden. Der Schweizer Regisseur Rafael Sanchez wird den Roman in einer Neufassung von Eberhard Petschinka auf die Bühne bringen.
JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN basiert auf einer wahren Begebenheit im Berlin der 1940er Jahre und entwickelt aus der dichten Beschreibung einer Hausgemeinschaft ein düsteres Gesellschaftspanorama. Hans Fallada hat seinen Roman kurz nach Kriegsende und wenige Monate vor seinem Tod in vier Wochen zu Papier gebracht. Die ungekürzte Fassung ist erst im Jahre 2011 erschienen und zu einem internationalen Bestseller geworden. Der Schweizer Regisseur Rafael Sanchez wird den Roman in einer Neufassung von Eberhard Petschinka auf die Bühne bringen.
Dauer der Aufführung: 3 Stunden und 15 Minuten.
Eine Pause.
Eine Pause.
Besetzung
Regie
Bühne
Simeon Meier
Kostüme
Musik
Dramaturgie
Licht
Otto Quangel
Anna Quangel
Trudel Baumann / Eva Kluge / Claire Gerich / Liese / Sprechstundenhilfe / Prostituierte
Antje Trautmann
Frau Rosenthal / Hete
Obergruppenführer Prall / Kammergerichtsrat Fromm / Persicke sen. / Obersturmbannführer Ernst Gerich / Friedrich
Kommissar Escherich / Karl Hergesell / Baldur Persicke
Matthias Luckey
Emil Barkhausen / Schauspieler Max Harteisen / Schröder / Säugling / Der Mann am Guckloch
Enno Kluge / Grigoleit / Kommissar Rusch / Rechtsanwalt Dr. Toll / Kommissar Zott
Banda Internationale
Gitarre, E-Bass
Hamid Jamshidi
Cello
Akram Younus Ramadhan
Posaune
Martin Schulze
Tenor-Saxophon, Alt-Sax, Querflöte, Klarinette
Richard Ebert
Trompete, Flügelhorn
Germi Rieß
Sousaphon
Marc Hartmann
Schlagzeug, Percussion
Arne Müller
Die stark gekürzte Theaterversion wurde von Eberhard Petschinka für die Dresdner Inszenierung geschrieben. Sie konzentriert sich auf ein beklemmendes Gesellschaftspanorama der Nazizeit, erzählt am Beispiel einer Berliner Hausgemeinschaft. Mit Blockwart, Briefträgerin, verfolgter Jüdin, Ex-Richter, Denunziant, Alkoholiker, Hitlerjunge und SS-Mann. Acht Schauspieler spielen 27 Rollen. Charaktere und Karikaturen. Ein Fest für das gut besetzte Ensemble. Kein Neuling dabei. Seit Jahren prägen sie das Dresdner Schauspiel: Christine Hoppe, Hannelore Koch, Antje Trautmann, Thomas Eisen, Holger Hübner, Matthias Luckey, Philipp Lux und Torsten Ranft. Regisseur Rafael Sanchez hat ihre Stärken herausgekitzelt und zeigt ihre Vielseitigkeit. Die Schauspieler treten öfter aus ihren Rollen, kommentieren das Geschehen, wenden sich ans Publikum. Sanchez, Schweizer mit spanischen Wurzeln, Hausregisseur am Schauspiel Köln, arbeitet erstmals in Dresden. Er macht im besten Sinne konventionelles Theater, ohne Turn- und Akrobatikeinlagen, und vertraut dem Text.
Die NS-zeitgemäßen Kostüme und Frisuren entwarf Ursula Leuenberger. Das drehbare Bühnenbild stammt von Simeon Meier. Bänke, Säulen, Nischen, Türen, Treppen, Räume – versehen mit Teppichmustern. Musiker der Banda Internationale spielen Marsch- und Unterhaltungsmusik der Dreißigerjahre.
Das emotionale Schlussbild ist an Intensität schwer zu übertreffen.
Thomas Eisen als Otto Quangel bleibt in starker Erinnerung. Ein anständiger Mann, der wenig Worte über den Widerstand macht. Er stirbt ohne Angst, mit dem Gefühl, nicht umsonst gelebt zu haben, Christine Hoppes Anna Quangel verdrängt den Gedanken an eine Verhaftung lange. Als sie den Schergen in die Hände fällt, hat sie nur noch einen Wunsch: Sie will sich von ihrem Otto verabschieden dürfen.
Holger Hübner zeigt als brutaler, fieser, verschlagener und versoffener Obersturmbannführer die Studie eines Machtmenschen, dem es eine wahre Lust ist, den ihm intellektuell überlegenen Kommissar zu demütigen. Als stiller, aber mutiger Ex-Richter, der die Jüdin in seiner Wohnung versteckt, beweist Hübner eine Wandelbarkeit, die ihm viel zu selten abverlangt wird.
Matthias Luckey brilliert als eleganter, mit Bedacht ermittelnder Kommissar Escherich, der zuletzt in Gewissensnöte gerät und sich die Kugel gibt.
Philipp Lux gibt den schmierigen Spitzel Barkhausen, eine Figur bar aller Moral. Beeindruckend sein Auftritt als in Goebbels‘ Ungnade gefallener Starschauspieler des Dritten Reiches. Hannelore Koch bewahrte als gepeinigte Jüdin ihre Würde und begeistert als bodenständige, dralle Tierhändlerin die Zuschauer. Torsten Ranft spielt einen frohgemuten Nichtsnutz, immer auf der Suche nach einer guten Mahlzeit und einer kleinen Prise Erotik. Als er unvermutet in die Fänge der Gestapo gerät, entgeht er der drohenden Folterung durch erzwungenen Freitod. Alltag in der Zeit einer Diktatur, über die Hans Fallada sagte: ‚Wir haben alle alle Tage gezittert.‘“
Sieben Musiker der Banda Internationale sorgen für einen erstklassigen Live-Soundtrack.
Fallada, der nach dem Zweiten Weltkrieg von Johannes R. Becher (der damals noch nicht DDR-Kulturminister war) mit den Akten eines authentischen Falls (die Quangels hießen eigentlich Otto und Elise Hampel) vertraut gemacht worden war, fertigte nach einigem Überlegen tatsächlich einen Roman, der auf dem Fall basierte. Es ist die Zustandsbeschreibung eines Landes im Abwärtstaumel, hin zum völligen Verlust des Ethischen.
Dass der Tod der Quangels am Ende steht bei ‚Jeder stirbt für sich allein‘, liegt auf der Hand. Der Kreis hat sich geschlossen. Es ist die Distanz zu diesem Tod, die bei allen Figuren Falladas spürbar ist, vor allem durch die die Grundschwingung des Krieges, der (noch) siegreich geführt wird. Quangels Sohn, Quangels Fast-Schwiegertochter Trudel (Antje Trautmann), Lore Rosenthal, Enno Kluge, Kommissar Escherich – sie alle sterben. Das Schicksal anderer wie Harteisen oder des scheiternden Kommissars Zott (Torsten Ranft einmal mehr überzeugend) wird angedeutet, es ist kein gutes. Für ein Happy End ist auf der Bühne kein Platz. Bei Fallada ist der Tod allgegenwärtig, die Distanz zu ihm schrumpft beständig.“
Es ist ein Ensemblestück, in dem die Schauspieler fast im Sekundentakt die Kostümierung wechselnd – bis zu fünf Charaktere darstellen. Bravourös, brilliant. Die Regie (Rafael Sanchez) unterstreicht die Rasanz: Auf dem sich drehenden Bühnenbild spielen sich manchen Szenen fast gleichzeitig ab; die zwischen den Schauspielern platzierten Musiker der Banda Internationale lockern die düstere Story auf.
Ein schwerer Brocken ist dieses Miniaturpanorama der NS-Zeit, wichtig und aktuell ist es gleichwohl. Dafür gab es bei der Premiere am Sonnabend viel Applaus und manch Bravo-Ruf.“
Das Ensemble sprüht gerade dann vor Spielfreude, wenn es um den Alltag der Hausgemeinschaft in der Jablonskistraße geht. Eva Kluge streitet sich mit ihrem (von Torsten Ranft herausragend impulsiv gegebenen) Ehemann Enno um Geld, Essen und die Kinder, die linientreuen Persickes lassen keine Gelegenheit aus, Abweichler zu denunzieren, und Trudel Bachmann (Antje Trautmann) tritt aus der kommunistischen Widerstandszelle aus, weil sie sich ihr privates Liebesglück nicht durch Politarbeit verderben lassen will.
Weil Sanchez all diesen vermeintlichen Nebenfiguren aus Falladas Roman von Beginn an viel Raum schenkt, kommt im Parkett dieses beklemmende Gefühl an, dass man sich diesen seit 75 Jahren vergangenen Nachbarschaftsszenen befremdlich nahe wähnt – und sich gewarnt fühlt, gerade in Dresden, das sich derzeit jede Woche mit aus dem Umland in die Stadt gekarrten reaktiven Nationalisten und teilweise sogar beinharten Rassisten konfrontiert sieht.
Acht Schauspieler mimen 30 Figuren aus dem 700 Seiten starken Roman in etwas mehr als drei Stunden. Simeon Meier hat dafür eine verwinkelte Bühne gebaut, deren Einzelteile an samtrot gesprenkelte Sofabezüge aus den 1930er Jahren erinnern. Er integriert sie in eine weitere Protagonistin des Abends: Die clever konstruierte, weil alle Räume ins Hohle und ins Hohe ausnutzende Drehbühne ermöglicht, dass die verschiedenen Schauplätze ohne viel Schnickschnack in die Szenerie geschoben werden können.
Nazi-Deutschland erscheint hier nicht, wie in der neuen und viel kritisierten Kinoverfilmung des Fallada-Stoffes mit Emma Thompson und Daniel Brühl, als zwischen Disneyland-Idyll und Fascho-Horror schwankende Schlacht zwischen Gut und Böse. Denn Sanchez nimmt die literarische Vorlage ernst. Hans Fallada konnte die großen politischen Linien seiner Zeit anhand ‚kleiner Leute‘ erzählen und auf den Punkt bringen, was das Leben in einer Wirtschaftskrise oder unter faschistischer Herrschaft bedeutet – und was solch elende Zustände aus zuvor nie durch besondere Grausamkeit aufgefallenen Menschen machen können.“
Das ist das Spannende an der Regie von Sanchez bei seinem Dresdner Staatsschauspiel-Debut. Jeden einzelnen Mitläufer holt er ins Rampenlicht, um zu fragen: warum? Warum hatten die Nazis so wenig Widerstand, und warum finden heute schon wieder Rechte so viel Anklang? Stellenweise bin ich als Zuschauer erschrocken, dass ich mich dabei ertappe, Falladas Figuren auch 75 Jahre später aus dem Alltag zu kennen.“