Uraufführung 04.11.2016
› Kleines Haus 1
Requiem für Europa
von Oliver Frljić und Ensemble
Handlung
Am Anfang Europas steht ein Verbrechen. Der Raub der syrischen Jungfrau Europa durch den griechischen Gott Zeus in Gestalt eines Stieres. Während dieser serielle Triebtäter mittlerweile vor allem an der amerikanischen Börse gegen den Bären der Rezession kämpft, macht Europa mit Sternenkranz einen auf Gottesmutter, unter den Füßen die Trümmer von einmal Auschwitz und zweimal Weltkrieg. Friede, Freude, Gurkennorm? Der Thron wankt. In letzter Zeit mischen sich in all den brüderlich vereinten Jubel vermehrt einzelne Gegenstimmen und Straßenlärm. Ist Europa in Gefahr, wegen Überfüllung geschlossen oder zu Tode verteidigt zu werden? Oder droht eine neue „Vergewaltigung Europas“, die Rückkehr des Opfer-Mythos, wie ein konservatives polnisches Magazin Anfang 2016 titelte? Der kroatische Regisseur Oliver Frljić, der als wichtigster Theatermacher seines Landes gilt, widmet sich in seiner Arbeit am Staatsschauspiel Dresden der Frage von Europas Identität, seinen Mythen in Zeiten wirtschaftlicher wie humanitärer Krisen und erstarkender nationalistischer Bewegungen.
„Meistens trägt Theater dazu bei, gesellschaftlichen Konsens herzustellen, der die Hegemonie bestimmter sozialer Schichten schafft. Die normative Ästhetik, die in diesem Kontext entsteht, hält das Theater davon ab, die Fragen zu stellen, die im etalierten gesellschaftlichen Konsens Missklang hervorrufen könnten. Das Theater ist ein weiterer Ort für die Reproduktion gesellschaftlicher Dominanz – es ist der Ort, an dem gewisse Werte zur Norm gemacht werden. Wer versteht die Sprache, die wir im Theater verwenden? Mit wem wollen wir kommunizieren, welche gesellschaftliche Schicht ist unsere Zielgruppe? Es kann nicht sein, dass wir kein Interesse an der gesellschaftlichen Struktur unseres Publikums haben. Wir haben die kleinkarierten und spießigen kritischen Anschuldigungen schon oft gehört: ‚Das ist zu simpel, es ist plakativ, es ist ein Pamphlet!‘, die die Theaterarbeit disqualifizieren wollen, weil sie die ‚gesellschaftlichen Werte, die uns allen als im Interesse der Allgemeinheit aufgezwungen werden‘ nicht reproduziert, und die Theatersprache dient diesem Zweck. Aber dieser Aufschrei ist bereits ein gutes Zeichen – die erste Verteidigung des gesellschaftlichen Konsens ist bereits mobilisiert.“ (Oliver Frljić, www.gorki.de/de/gegen-erinnerung)
„Meistens trägt Theater dazu bei, gesellschaftlichen Konsens herzustellen, der die Hegemonie bestimmter sozialer Schichten schafft. Die normative Ästhetik, die in diesem Kontext entsteht, hält das Theater davon ab, die Fragen zu stellen, die im etalierten gesellschaftlichen Konsens Missklang hervorrufen könnten. Das Theater ist ein weiterer Ort für die Reproduktion gesellschaftlicher Dominanz – es ist der Ort, an dem gewisse Werte zur Norm gemacht werden. Wer versteht die Sprache, die wir im Theater verwenden? Mit wem wollen wir kommunizieren, welche gesellschaftliche Schicht ist unsere Zielgruppe? Es kann nicht sein, dass wir kein Interesse an der gesellschaftlichen Struktur unseres Publikums haben. Wir haben die kleinkarierten und spießigen kritischen Anschuldigungen schon oft gehört: ‚Das ist zu simpel, es ist plakativ, es ist ein Pamphlet!‘, die die Theaterarbeit disqualifizieren wollen, weil sie die ‚gesellschaftlichen Werte, die uns allen als im Interesse der Allgemeinheit aufgezwungen werden‘ nicht reproduziert, und die Theatersprache dient diesem Zweck. Aber dieser Aufschrei ist bereits ein gutes Zeichen – die erste Verteidigung des gesellschaftlichen Konsens ist bereits mobilisiert.“ (Oliver Frljić, www.gorki.de/de/gegen-erinnerung)
Besetzung
Regie / Bühne und Kostüme
Oliver Frljić
Bühne und Kostüme
Anne-Alma Quastenberg
Licht
Dramaturgie
Michael Isenberg, Marija Karaklajić
Mit
Annedore Bauer, Loris Kubeng, Sebastian Pass, Benjamin Pauquet, Alexandra Weis
Video
Interview
Ein Interview
mit dem Regisseur Oliver Frljić
mit dem Regisseur Oliver Frljić
Herr Frljić, Sie sind derzeit Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka und arbeiten nun zum ersten Mal für das Staatsschauspiel Dresden. Ist Theater als nationaler Repräsentations- und Selbstvergewisserungsraum Ihrer Meinung nach heute noch zeitgemäß?
Oliver Frljić: Als Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka versuche ich, das nationalistische System und die Werte zu dekonstruieren, die in allen post-jugoslawischen Ländern in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre aufgestellt wurden und immer noch gültig sind. Seit der Unabhängigkeit Kroatiens wurde die Demokratie in erster Linie als Legitimation dafür genutzt, verschiedene Minderheiten in der Gesellschaft durch nationale Mehrheiten zu unterdrücken. Meine Entscheidung, Intendant zu werden, war von der Idee geleitet, dass ein Nationaltheater der Ort sein sollte, an dem Minderheiten sichtbar
werden und sich emanzipieren können. Am 8. Oktober 2014, der Tag, an dem in Kroatien der Unabhängigkeitstag gefeiert wird, stellte ich vor dem Theater eine LGBTQ-Flagge (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer) auf, als ein Zeichen dafür, dass alle kroatischen Bürger gleich behandelt werden sollten. Das steht zwar in unserer Verfassung, wird aber selten in die Tat umgesetzt. Das war der erste öffentliche Akt, in dem ich das symbolische Kapital des Nationaltheaters genutzt habe. Die Reaktionen darauf waren heftig und haben gezeigt, wie tief verschiedene Formen von Intoleranz in der kroatischen Gesellschaft verankert sind. Eine solche Fahne an einem nationalen Theater aufzustellen, wurde von einer Mehrheit der Medien und Bürger als Angriff auf die Bevölkerung, den Staat verstanden. Aber das war nur der Anfang. Bald danach ging es los mit Morddrohungen – und das hat bis heute nicht aufgehört.
In Ihrer Arbeit für das Staatsschauspiel Dresden setzen Sie sich mit verschiedenen Bildern und Mythen Europas auseinander. Was verraten diese Bilder über das Selbstverständnis einer Gemeinschaft?
Wir leben in einer Welt, in der die freie Fluktuation des Kapitals möglich ist und gern gesehen wird, aber das gilt nicht für alle Menschen gleichermaßen. Wir erleben gerade den Zerfall Europas – nicht bloß Europa als monetäre oder politische Idee, sondern Europa als eine Idee von Multikulturalität und Emanzipation. Wenn Flüchtlinge an den Außengrenzen aufgehalten werden, hat Europa vergessen, dass das Elend dieser Menschen vor allem in den Jahren des Kolonialismus die Quelle unseres Wohlstands war. Oder denken Sie, dass westeuropäische Lebensstandards und Reichtum ohne Sklaverei möglich gewesen wären, ohne brutale Ausbeutung derjenigen, die heute an die Türen Europas klopfen? Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“) hat einmal eine einfache Frage gestellt, die heute viel dringlicher klingt als je zuvor – wann wird Europa Reparationen dafür zahlen, was sie den Kolonien geraubt haben? Und ist es nicht der ultimative Zynismus gegenüber den Menschen, die an den Grenzen Europas stehen – wo immer diese Grenze ist – zu sagen, wir akzeptieren die Opfer politischer Unterdrückung, aber nicht Opfer wirtschaftlicher Ausbeutung? Warum? Gibt es einen vernünftigen Grund hierfür? Ist wirtschaftliche Unterdrückung weniger gefährlich als politische Unterdrückung?
Oliver Frljić: Als Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka versuche ich, das nationalistische System und die Werte zu dekonstruieren, die in allen post-jugoslawischen Ländern in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre aufgestellt wurden und immer noch gültig sind. Seit der Unabhängigkeit Kroatiens wurde die Demokratie in erster Linie als Legitimation dafür genutzt, verschiedene Minderheiten in der Gesellschaft durch nationale Mehrheiten zu unterdrücken. Meine Entscheidung, Intendant zu werden, war von der Idee geleitet, dass ein Nationaltheater der Ort sein sollte, an dem Minderheiten sichtbar
werden und sich emanzipieren können. Am 8. Oktober 2014, der Tag, an dem in Kroatien der Unabhängigkeitstag gefeiert wird, stellte ich vor dem Theater eine LGBTQ-Flagge (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer) auf, als ein Zeichen dafür, dass alle kroatischen Bürger gleich behandelt werden sollten. Das steht zwar in unserer Verfassung, wird aber selten in die Tat umgesetzt. Das war der erste öffentliche Akt, in dem ich das symbolische Kapital des Nationaltheaters genutzt habe. Die Reaktionen darauf waren heftig und haben gezeigt, wie tief verschiedene Formen von Intoleranz in der kroatischen Gesellschaft verankert sind. Eine solche Fahne an einem nationalen Theater aufzustellen, wurde von einer Mehrheit der Medien und Bürger als Angriff auf die Bevölkerung, den Staat verstanden. Aber das war nur der Anfang. Bald danach ging es los mit Morddrohungen – und das hat bis heute nicht aufgehört.
In Ihrer Arbeit für das Staatsschauspiel Dresden setzen Sie sich mit verschiedenen Bildern und Mythen Europas auseinander. Was verraten diese Bilder über das Selbstverständnis einer Gemeinschaft?
Wir leben in einer Welt, in der die freie Fluktuation des Kapitals möglich ist und gern gesehen wird, aber das gilt nicht für alle Menschen gleichermaßen. Wir erleben gerade den Zerfall Europas – nicht bloß Europa als monetäre oder politische Idee, sondern Europa als eine Idee von Multikulturalität und Emanzipation. Wenn Flüchtlinge an den Außengrenzen aufgehalten werden, hat Europa vergessen, dass das Elend dieser Menschen vor allem in den Jahren des Kolonialismus die Quelle unseres Wohlstands war. Oder denken Sie, dass westeuropäische Lebensstandards und Reichtum ohne Sklaverei möglich gewesen wären, ohne brutale Ausbeutung derjenigen, die heute an die Türen Europas klopfen? Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“) hat einmal eine einfache Frage gestellt, die heute viel dringlicher klingt als je zuvor – wann wird Europa Reparationen dafür zahlen, was sie den Kolonien geraubt haben? Und ist es nicht der ultimative Zynismus gegenüber den Menschen, die an den Grenzen Europas stehen – wo immer diese Grenze ist – zu sagen, wir akzeptieren die Opfer politischer Unterdrückung, aber nicht Opfer wirtschaftlicher Ausbeutung? Warum? Gibt es einen vernünftigen Grund hierfür? Ist wirtschaftliche Unterdrückung weniger gefährlich als politische Unterdrückung?
Worin sehen Sie im Moment die größte Bedrohung der Europäischen Idee?
Die größte Gefahr der Europäischen Union ist die EU selbst. Das Europa, das wir heute haben, ist eine Kopie der alten kolonialen Strukturen politischer und wirtschaftlicher Macht. Wir haben eine Unterteilung in Westeuropa und eine südosteuropäische koloniale Peripherie, wozu auch das Land gehört, in dem ich gerade lebe. „Ein kleines Land für eine große Faschisierung“ – das könnte der Slogan für die nächste Touristensaison in Kroatien sein.
Haben Sie eine persönliche Utopie, wie ein hoffnungsvolles Europa aussehen könnte?
Im Augenblick sind alle meine Gedanken zu Europa recht dystopisch.
Welche gesellschaftliche Aufgabe kann bzw. sollte die Kunst im heutigen Europa übernehmen? In welcher Verantwortung sehen Sie Ihre eigene Theaterarbeit?
Erlauben Sie mir, Rosa Luxemburg zu zitieren: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.“ Und lassen Sie mich, wo wir gerade schon beim Marxismus sind, auch noch einen Satz von Lenin hinzufügen: „Ethik ist die Ästhetik der Zukunft.“ Heutige Gesellschaften stehen vor einem Dilemma – sollten wir wirklich das derzeitige ökonomische System fortführen, das in seinem Wesen so schlecht ist, verantwortlich für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit und Armut, und die Interessen derjenigen schützt und fördert, die bereits an Machtpositionen sitzen – politischen wie ökonomischen? Haben wir aufgegeben, über Alternativen nachzudenken? Und was würden wir überhaupt für eine Alternative auf uns nehmen? Sind wir bereit für etwas einzustehen oder sogar zu sterben? Irgendetwas? Gibt es im derzeitigen Europa irgendeine Idee, die es wert wäre, dafür zu sterben? Die Antwort auf diese Fragen, die ihnen zugrundeliegende Ethik, wäre die Ästhetik von morgen.
Mit Oliver Frljić sprach Michael Isenberg.
Oliver Frljić ist einer der wichtigsten Theatermacher Kroatiens. Anfang der 90er-Jahre floh er aufgrund des Bosnienkrieges nach Zagreb. Er studierte Philosophie, Religionswissenschaft und schließlich Regie an der Akademija dramske umjetnosti. Seit 2014 ist er Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka und inszeniert darüber hinaus an verschiedenen deutschsprachigen Theatern in Düsseldorf, München und Berlin.
Die größte Gefahr der Europäischen Union ist die EU selbst. Das Europa, das wir heute haben, ist eine Kopie der alten kolonialen Strukturen politischer und wirtschaftlicher Macht. Wir haben eine Unterteilung in Westeuropa und eine südosteuropäische koloniale Peripherie, wozu auch das Land gehört, in dem ich gerade lebe. „Ein kleines Land für eine große Faschisierung“ – das könnte der Slogan für die nächste Touristensaison in Kroatien sein.
Haben Sie eine persönliche Utopie, wie ein hoffnungsvolles Europa aussehen könnte?
Im Augenblick sind alle meine Gedanken zu Europa recht dystopisch.
Welche gesellschaftliche Aufgabe kann bzw. sollte die Kunst im heutigen Europa übernehmen? In welcher Verantwortung sehen Sie Ihre eigene Theaterarbeit?
Erlauben Sie mir, Rosa Luxemburg zu zitieren: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.“ Und lassen Sie mich, wo wir gerade schon beim Marxismus sind, auch noch einen Satz von Lenin hinzufügen: „Ethik ist die Ästhetik der Zukunft.“ Heutige Gesellschaften stehen vor einem Dilemma – sollten wir wirklich das derzeitige ökonomische System fortführen, das in seinem Wesen so schlecht ist, verantwortlich für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit und Armut, und die Interessen derjenigen schützt und fördert, die bereits an Machtpositionen sitzen – politischen wie ökonomischen? Haben wir aufgegeben, über Alternativen nachzudenken? Und was würden wir überhaupt für eine Alternative auf uns nehmen? Sind wir bereit für etwas einzustehen oder sogar zu sterben? Irgendetwas? Gibt es im derzeitigen Europa irgendeine Idee, die es wert wäre, dafür zu sterben? Die Antwort auf diese Fragen, die ihnen zugrundeliegende Ethik, wäre die Ästhetik von morgen.
Mit Oliver Frljić sprach Michael Isenberg.
Oliver Frljić ist einer der wichtigsten Theatermacher Kroatiens. Anfang der 90er-Jahre floh er aufgrund des Bosnienkrieges nach Zagreb. Er studierte Philosophie, Religionswissenschaft und schließlich Regie an der Akademija dramske umjetnosti. Seit 2014 ist er Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka und inszeniert darüber hinaus an verschiedenen deutschsprachigen Theatern in Düsseldorf, München und Berlin.