Deutsche Erstaufführung 16.06.2017
› Kleines Haus 1
Nachlass – Pièces sans personnes
Eine Produktion von Théâtre de Vidy, Lausanne in einer Koproduktion u. a. mit dem Staatsschauspiel Dresden
Handlung
Eine szenische Installation über den Tod, ein Theaterstück ohne Menschen. Schriftstücke, Testamente, Gerüche, Bankauszüge, letzte Worte, Facebook-Einträge. Was bleibt, wenn wir irgendwann nicht mehr da sind? Und wie wollen wir, dass man sich an uns erinnert? Die Künstlergruppe Rimini Protokoll hat Menschen besucht, die wissen, dass sie bald sterben werden. Gemeinsam mit ihnen haben sie über den Tod nachgedacht, gelacht und geschwiegen. Und sie haben Räume entworfen, die an sie erinnern sollen, wenn sie eines Tages nicht mehr da sind. Rimini Protokoll ermöglichen in ihren Arbeiten neue Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Sie arbeiten meist mit nichtprofessionellen Darsteller_innen zusammen – sogenannten Experten des Alltags – und suchen nach neuen Spielorten und Formaten an der Grenze von Theater, Film, Hörspiel und Installation. NACHLASS ist bereits ihre fünfte Arbeit, die sie in Dresden zeigen. Zuletzt waren sie mit SITUATION ROOMS und ADOLF HITLER: MEIN KAMPF, Band 1 & 2“ zu Gast.
Besetzung
Produzent
Théâtre de Vidy, Lausanne
Koproduzenten
Rimini Apparat – Schauspielhaus Zürich – Bonlieu Scène nationale Annecy et la Bâtie-Festival de Genève dans le cadre du programme INTERREG France-Suisse 2014 bis 2020 – Maillon, Théâtre de Strasbourg, Scène européenne – Stadsschouwburg Amsterdam – Staatsschauspiel Dresden
Video
Partner
Mit der Unterstützung von Fondation Casino Barrière, Montreux, Le Maire de Berlin – Chancellerie du Sénat – Affaires culturelles
Mit der Unterstützung für die Tournee Pro-Helvetia – Schweizer Kulturstiftung
Mit der Unterstützung für die Tournee Pro-Helvetia – Schweizer Kulturstiftung
Zum Stück
Stefan Kaegi und seine Mitarbeiter*innen haben zwei Jahre in Hospizen und Krankenhäusern, in wissenschaftlichen Forschungslaboren und bei Bestattern, in Seniorenheimen und religiösen Zentren, mit Gerichtsmedizinern, Neurologen und Rechtsanwälten verbracht – die alle unentwegt mit dem Tod zu tun haben. Dann trafen sie sich mit Menschen, die aus verschiedenen Gründen beschlossen haben, sich auf ihr Ableben vorzubereiten. Mit einigen ihrer Gesprächspartner_innen schufen sie besondere Räume, in denen jeder einzelne Nachlass zum Ausdruck gebracht werden konnte. Darin kann man Spuren der Leben entdecken, die sie hinterlassen werden, oder die Art, wie sie sich ihr Ableben vorstellen, oder die Darstellung einer Szene des Übergangs, ein Teil ihres Erbes oder etwas, das sie vor ihrem Verscheiden mitteilen möchten. Der Abstand, der jedem künstlerischen Schaffen innewohnt, machte es diesen Menschen möglich, sich ihr Sterben vor Augen zu führen und sich vorzustellen, wie ein Ort aussähe, der die Erinnerung an sie hervorrufen würde. Ein älteres Paar, das sich für einen gemeinsamen Tod entschieden hat, erzählt ihrer beider Leben und erinnert sich an ihrer beider Jugend; eine Frau versteht vor ihrem Tod einen geliebten Traum; ein Vater spricht mit seiner Tochter; ein Wissenschaftler analysiert die technischen Aspekte seines Ablebens; ein Mann türkischen Ursprungs aus Zürich sieht seinen Tod als Rückkehr zu seinen Wurzeln und zu dem Land seiner Geburt. Die acht präparierten Räume werden ebenso zu einem Ort des Erinnerns wie zu einer Gelegenheit, zwischen Abwesenden und Anwesenden Vertraulichkeiten auszutauschen. Alle Teilnehmer_innen haben einen Ort und Aspekt ihres Lebens ausgewählt, an dem sie uns teilhaben lassen möchten, während wir hindurchgehen. Sie sprechen zu uns durch ihre Inszenierung der Abwesenheit und den sehr speziellen Zustand der Aufmerksamkeit, den sie erzeugen. Darüber hinaus wirken die Räume als Schwelle zwischen Gegenwart und Abwesenheit, zwischen Leben und Tod; sie versuchen eine einfühlsame Annäherung an die einzige wahrhaft unbeschreibliche menschliche Erfahrung. Auf diese Weise wird ein theatraler Ausnahmemoment möglich – die Bühne ist oft ein Grenzbereich zwischen Fiktion und Realität, Abwesenheit und Anwesenheit. Nachlass wendet sich an die Lebenden, wie eine Erinnerung – als wäre das nötig –, dass die Toten nicht verschwinden, wenn sie sterben.
Im Gegenteil bleiben sie in das Leben der Lebenden verwickelt, sie interagieren und sprechen mit ihnen, beeinflussen sie, machen Vorschläge und laden sie dazu ein, ihr eigenes Leben auf eine andere Weise zu betrachten. Nachlass zeigt nicht die schwarze, blinde Bedrohung des Todes, vielmehr werden die Konturen lebendiger Schwellenbereiche gezeigt und wie die Lebenden, aller Gegenrede zum Trotz, von den Verstorbenen begleitet werden und ihren Lebensweg mit ihnen bestreiten.
Das Dokumentartheater von Rimini Protokoll gibt Zeugnis von den paradoxen Beziehungen zwischen der heutigen Gesellschaft und dem Tod. Obschon unsere gegenwärtige Reaktion auf den Tod häufig geprägt ist von Verleugnung (soweit, dass das Sterben aus dem Familienkreis in die Anonymität des Krankenhauses verbannt wird), war er noch nie so präsent in den Medien und sozial derart ausgestellt wie heute. Und dennoch können weder seine ständige Medienpräsenz noch verschiedenste medizinische und soziale Kontexte den Schrecken des Verschwindens, den er bedeutet, auflösen. Aus was besteht dieses Leben, das wir leben? Welche Andenken werden wir hinterlassen? Wie lange werden die Lebenden an uns festhalten? Was wird unser Vermächtnis sein? Es bleiben so viele Fragen bestehen nach dem bürokratischen Aufwand und den ethischen Problemen im Zusammenhang mit dem Ende eines Lebens. Und wenn die Vorstellung des eigenen Ablebens nicht hinnehmbar ist, so ist vielleicht die Furcht vor dem eigenen Tod wesentlich für ein gelassenes Leben. Abgesehen von seiner gesellschaftlichen Stellungnahme erinnert Nachlass uns auch daran, was uns mit anderen und mit den Zeiten, in denen wir leben, verbindet; daran, was wir empfangen und was wir weitergeben werden.
Eric Vautrin, September 2016
Das Dokumentartheater von Rimini Protokoll gibt Zeugnis von den paradoxen Beziehungen zwischen der heutigen Gesellschaft und dem Tod. Obschon unsere gegenwärtige Reaktion auf den Tod häufig geprägt ist von Verleugnung (soweit, dass das Sterben aus dem Familienkreis in die Anonymität des Krankenhauses verbannt wird), war er noch nie so präsent in den Medien und sozial derart ausgestellt wie heute. Und dennoch können weder seine ständige Medienpräsenz noch verschiedenste medizinische und soziale Kontexte den Schrecken des Verschwindens, den er bedeutet, auflösen. Aus was besteht dieses Leben, das wir leben? Welche Andenken werden wir hinterlassen? Wie lange werden die Lebenden an uns festhalten? Was wird unser Vermächtnis sein? Es bleiben so viele Fragen bestehen nach dem bürokratischen Aufwand und den ethischen Problemen im Zusammenhang mit dem Ende eines Lebens. Und wenn die Vorstellung des eigenen Ablebens nicht hinnehmbar ist, so ist vielleicht die Furcht vor dem eigenen Tod wesentlich für ein gelassenes Leben. Abgesehen von seiner gesellschaftlichen Stellungnahme erinnert Nachlass uns auch daran, was uns mit anderen und mit den Zeiten, in denen wir leben, verbindet; daran, was wir empfangen und was wir weitergeben werden.
Eric Vautrin, September 2016
Acht gestaltete Kammern, acht biografische Einblicke: Authentische Geschichten formen den ‚Nachlass‘.
Stefan Kaegi und Dominic Huber vom Rimini-Protokoll-Team ist mit ihrer Installation eine äußerst facettenreiche, tiefsinnige und lebensnahe Annäherung an das Thema gelungen. Sie laden nicht nur zum Hören und Ergriffensein ein. Der Besucher darf selbst in Kisten wühlen, Fotos durchsuchen oder türkischen Honig naschen, nachdem er brav die Schuhe vor dem orientalischen Teppich ausgezogen hat.“
Technisch eindrucksvoll: Das Sechs-Mann-Labor, in dem ab und die Gesichter der Anderen im Bildschirm erscheinen, vom Londoner Hirnforscher Richard Frackowiak konzipiert, der anhand seiner Familiengeschichte die Mängel der Wissenschaft anprangert und gegen Moralität für sein Ziel der Schmerzfreiheit plädiert.
Zu empfehlen ist der kleine Bühnenraum von Nadine Gros, Ex-Sekretärin aus Maxeville, die mit zwölf einen Kinderhit trällerte, den ihr Sohn sogar im Netz fand und dessen Vortrag mit Lichtspot auf die leere Bühne den Abschluss bildet.
Ex-Grafiker und Nun-Fliegenfischer Alexandre Bergerioux, Genfer des Jahrganges 1971, hat sorgsam per Filmkassette vorbereitet, was seine Tochter von ihm behalten soll. Eine Erbkrankheit, die schon seine Schwester blitzartig hinraffte (das Foto liegt unterm Bett), wird ihn auch bald treffen. Doppelter Lebenswert im tragischen Ausgleich, grandios schlicht dargestellt: Seine Krankheit wurde zum Glück erst drei Jahre nach ihrer Geburt festgestellt – Glück, weil sie frei davon ist.“