Premiere 26.02.2011
› Schauspielhaus
Minna von Barnhelm (2011)
Lustspiel von Gotthold Ephraim Lessing
Handlung
Gotthold Ephraim Lessings Lustspiel handelt von Frauenliebe und Männerehre, von Liebe und ihrer Gefährdung in einer vom Krieg zerstörten, vom Geld regierten und unbehaust gewordenen Welt. Aufgezeigt wird dieser Weg der Interpretation des jungen Regisseurs Simon Solberg anhand eines aus Afghanistan heimkehrenden und traumatisierten Soldaten, der all die Schrecken, die er erlebt hat, nicht verarbeiten kann, den die nicht mehr zu beantwortende Frage nach dem „Warum?“ und „Für wen“ nicht mehr loslassen und eine Wiedereingliederung in die Oberflächen- und Spaßgesellschaft unserer Zeit verhindert. Dieser noch junge Mann ist nicht erst im Frieden abgestürzt durch den ungerechten Rauswurf aus der Armee wie ursprünglich bei Lessing, sondern seine Tragödie ist der Krieg selbst, den junge Deutsche heute wieder erleben müssen, obwohl alle denken, dass wir in friedlichen Zeiten leben. Im Mittelpunkt stehen also ein sich selbst fremd gewordener Mann und eine erstaunlich selbstbewusste Frau, die ihn trotz seiner Aufkündigung der Verlobung (weil er sich entehrt, ihr nicht mehr würdig fühlt) nicht einfach ziehen lassen will. Sie glaubt an die Liebe, an die Zukunft, an die Vernunft und daran, dass die Gefühle jenes Tellheims, der sie einst heiraten wollte, sich nicht durch Kriegserlebnisse einfach ins Nichts aufgelöst haben. Können die beiden unter diesen Umständen noch miteinander glücklich werden?
„Lessing als Aufklärer ernst nehmen heißt für Simon Solberg, eine Welt der misslingenden Aufklärung, der taumelnden Vernunft zu beleuchten und in das Zentrum seiner Inszenierung zu rücken. (...) Auf die vordergründige Betroffenheitsarie zum Thema Krieg hat es der Abend natürlich nicht abgesehen. Solberg arbeitet sich vielmehr an einer komischen Kehrseite entlang. Er zeigt Krawall, Jux und Klamauk, komische Filmzitate als Teile einer heutigen Wirklichkeit. Die Szenen sind oft trashig. Sie zitieren die Popkultur, den Comic etwa oder die Comedy und werden zur Farce überhöht, wobei die Sprache unvermittelt das Gestern und Heute überblendet. Nein! Hier geht es nicht mehr um Krieg und den Wertewandel im Frieden, der komisch auf das Geschlechterverhältnis durchschlägt. Hier geht es um Krieg und den hämmernden Befriedungsaktivismus der Spaßgesellschaft. Der Befund ist alt und trostlos. Es gibt im Grunde keinen Frieden bei Solberg, es gibt nur den groben Unfug und den tödlichen Schuss. Die Moderne scheitert. (...) Der große Schmerz- und Kontrapunkt der Inszenierung zeigt die schmutzige, jäh aus dem Spaßbad hervorbrechende Realität des Krieges deutlich in aufklärerischem Licht.(...) Solbergs am Premierenabend mit Buhs und Bravos aufgenommene "Minna von Barnhelm" wagt die moralische Empörung.“ (nachtkritik.de, 27.02.2011)
Tobias Becker schrieb im Kulturspiegel über den Regisseur Simon Solberg, der am Staatsschauspiel Dresden in der Saison 2009.2010 „Romeo und Julia“ inszeniert hat: „Solberg ist der vielleicht unverkrampfteste Regisseur seiner Generation – und sicher der unterhaltsamste.“ Solberg ist auch einer der gefragtesten Jungregisseure, der regelmäßig in Frankfurt, Mannheim, München, Basel und Berlin inszeniert.
„Lessing als Aufklärer ernst nehmen heißt für Simon Solberg, eine Welt der misslingenden Aufklärung, der taumelnden Vernunft zu beleuchten und in das Zentrum seiner Inszenierung zu rücken. (...) Auf die vordergründige Betroffenheitsarie zum Thema Krieg hat es der Abend natürlich nicht abgesehen. Solberg arbeitet sich vielmehr an einer komischen Kehrseite entlang. Er zeigt Krawall, Jux und Klamauk, komische Filmzitate als Teile einer heutigen Wirklichkeit. Die Szenen sind oft trashig. Sie zitieren die Popkultur, den Comic etwa oder die Comedy und werden zur Farce überhöht, wobei die Sprache unvermittelt das Gestern und Heute überblendet. Nein! Hier geht es nicht mehr um Krieg und den Wertewandel im Frieden, der komisch auf das Geschlechterverhältnis durchschlägt. Hier geht es um Krieg und den hämmernden Befriedungsaktivismus der Spaßgesellschaft. Der Befund ist alt und trostlos. Es gibt im Grunde keinen Frieden bei Solberg, es gibt nur den groben Unfug und den tödlichen Schuss. Die Moderne scheitert. (...) Der große Schmerz- und Kontrapunkt der Inszenierung zeigt die schmutzige, jäh aus dem Spaßbad hervorbrechende Realität des Krieges deutlich in aufklärerischem Licht.(...) Solbergs am Premierenabend mit Buhs und Bravos aufgenommene "Minna von Barnhelm" wagt die moralische Empörung.“ (nachtkritik.de, 27.02.2011)
Tobias Becker schrieb im Kulturspiegel über den Regisseur Simon Solberg, der am Staatsschauspiel Dresden in der Saison 2009.2010 „Romeo und Julia“ inszeniert hat: „Solberg ist der vielleicht unverkrampfteste Regisseur seiner Generation – und sicher der unterhaltsamste.“ Solberg ist auch einer der gefragtesten Jungregisseure, der regelmäßig in Frankfurt, Mannheim, München, Basel und Berlin inszeniert.
Besetzung
Regie
Simon Solberg
Bühne
Simeon Meier
Kostüme
Musik und Video
Philipp Stangl
Licht
Michael Gööck
Dramaturgie
Jens Groß
Major von Tellheim
Sebastian Wendelin
Minna von Barnhelm
Picco von Groote
Franziska, Minnas Bediente
Cathleen Baumann
Just, Bedienter des Majors / Paul Werner, Freund des Majors
Stefko Hanushevsky
Wirt / Riccaut de la Marlinière
Video
von Simon Solberg
Tellheim ... Kriegsheimkehrer ... Ehre ... Aufklärung ... Heute ...?
Geben wir uns zur gedanklichen Annäherung für ein paar Zeilen der Utopie eines folgenden Szenarios hin: Was wäre, wenn ein Investment-Banker sich in Folge der Finanzkrise, dem Massaker an einem der perfidesten Kampfplätze unserer Zeit, für einen Tag die Folgen seines Handelns in Gänze bewusst machte, sein Gewissen wiederentdeckte und von einem auf den anderen Tag beschließen würde, persönliche finanzielle Interessen hinter einen gewissenhaften und ethisch korrekten Umgang mit seinen Mitmenschen zu stellen. Bauen wir das Szenario aus und geben eben diesem Spekulanten ein Alter Ego in Form eines Offiziers, der in einen Kampfeinsatz nach Afghanistan ging, dort in den Wirren kriegerischer Auseinandersetzung Menschen tötete, Kameraden verlor, und der nicht mehr nachvollziehen kann, wie er dadurch Deutschland am Hindukusch verteidigt. Stellen wir uns weiter vor, dass dieser zwiegespaltene Investment-Major irgendwo auf einem Abreißkalender, im Internet oder in einer Bibliothek auf folgende Verse von Rilke stößt: Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht, uns die Schwindendsten. Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nicht mehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.
Und wenn nun dieser Offiziers-Banker, mit Rilkes Zeilen im Ohr, beginnt, aus dem Gefühl der eigenen Schuld heraus, sich seinen Taten und den möglichen Zusammenhängen und Hintergründen seiner Vorgesetzten und der Gesellschaft, in der sich befindet, zu stellen, befinden wir uns mitten in einem möglichen Set-up für eine Übersetzung des aufklärerischen Moments in „Minna von Barnhelm“, welches das Werk Lessings zu seiner Zeit so besonders machte. Führten wir das Szenario weiter, könnten wir einen Major von Tellheim vorfinden, dem es aufgrund seiner, in seinen Augen, unehrenhaften Vergangenheit – und verfolgt von den Bildern seiner leidenden Mitmenschen – schwer fällt, im geregelten Alltag Fuß zu fassen und sich samt seines Schuldkomplexes seinen Freunden und seiner Liebe zuzumuten.
Unter dem ständigen Versuch seines Umfeldes, ihn mit allen bekannten therapeutischen Mitteln aus den Bildern seiner Vergangenheit zu befreien, begibt sich dieser Banker-Soldat auf die Suche nach Aufklärung, bei der er auf Texte, wie den folgenden, des Unsichtbaren Komitees *), stoßen könnte: „Es ist ein Gegen-Aufklärerisches Moment, das sich da zeigt. Anstatt sich die sozialen, politischen oder ökologischen Prozesse kritisch anzueignen, anstatt sie zu durchleuchten, werden sie zunehmend mythifiziert, sie werden undurchdringlich, schicksalhaft, unabänderlich wie das launige Wirken der griechischen Götter, denen die Menschen in der homerischen Welt auf ewig ausgeliefert waren. Aus der medialen Lust an Dramatik entsteht so ein eingebildetes Drama: wir bilden uns ein, die Welt sei nicht mehr zu verstehen, wir bilden uns ein, die Abläufe der globalen Finanzwelt seien nicht nachvollziehbar, dabei weiß jedes Kind, dass es nicht mehr verleihen darf als es hat, wir bilden uns ein, der Klimawandel sei nicht beherrschbar, dabei weiß jedes Kind, dass das, was man aufisst, nicht mehr da ist, wir bilden uns ein, Integration sei ungestaltbar, dabei weiß jedes Kind, dass es einem neuen Mitspieler den Ball auch mal zuspielen muss, damit der ein Tor schießen kann.
Geben wir uns zur gedanklichen Annäherung für ein paar Zeilen der Utopie eines folgenden Szenarios hin: Was wäre, wenn ein Investment-Banker sich in Folge der Finanzkrise, dem Massaker an einem der perfidesten Kampfplätze unserer Zeit, für einen Tag die Folgen seines Handelns in Gänze bewusst machte, sein Gewissen wiederentdeckte und von einem auf den anderen Tag beschließen würde, persönliche finanzielle Interessen hinter einen gewissenhaften und ethisch korrekten Umgang mit seinen Mitmenschen zu stellen. Bauen wir das Szenario aus und geben eben diesem Spekulanten ein Alter Ego in Form eines Offiziers, der in einen Kampfeinsatz nach Afghanistan ging, dort in den Wirren kriegerischer Auseinandersetzung Menschen tötete, Kameraden verlor, und der nicht mehr nachvollziehen kann, wie er dadurch Deutschland am Hindukusch verteidigt. Stellen wir uns weiter vor, dass dieser zwiegespaltene Investment-Major irgendwo auf einem Abreißkalender, im Internet oder in einer Bibliothek auf folgende Verse von Rilke stößt: Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das seltsam uns angeht, uns die Schwindendsten. Ein Mal jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nicht mehr. Und wir auch ein Mal. Nie wieder. Aber dieses ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.
Und wenn nun dieser Offiziers-Banker, mit Rilkes Zeilen im Ohr, beginnt, aus dem Gefühl der eigenen Schuld heraus, sich seinen Taten und den möglichen Zusammenhängen und Hintergründen seiner Vorgesetzten und der Gesellschaft, in der sich befindet, zu stellen, befinden wir uns mitten in einem möglichen Set-up für eine Übersetzung des aufklärerischen Moments in „Minna von Barnhelm“, welches das Werk Lessings zu seiner Zeit so besonders machte. Führten wir das Szenario weiter, könnten wir einen Major von Tellheim vorfinden, dem es aufgrund seiner, in seinen Augen, unehrenhaften Vergangenheit – und verfolgt von den Bildern seiner leidenden Mitmenschen – schwer fällt, im geregelten Alltag Fuß zu fassen und sich samt seines Schuldkomplexes seinen Freunden und seiner Liebe zuzumuten.
Unter dem ständigen Versuch seines Umfeldes, ihn mit allen bekannten therapeutischen Mitteln aus den Bildern seiner Vergangenheit zu befreien, begibt sich dieser Banker-Soldat auf die Suche nach Aufklärung, bei der er auf Texte, wie den folgenden, des Unsichtbaren Komitees *), stoßen könnte: „Es ist ein Gegen-Aufklärerisches Moment, das sich da zeigt. Anstatt sich die sozialen, politischen oder ökologischen Prozesse kritisch anzueignen, anstatt sie zu durchleuchten, werden sie zunehmend mythifiziert, sie werden undurchdringlich, schicksalhaft, unabänderlich wie das launige Wirken der griechischen Götter, denen die Menschen in der homerischen Welt auf ewig ausgeliefert waren. Aus der medialen Lust an Dramatik entsteht so ein eingebildetes Drama: wir bilden uns ein, die Welt sei nicht mehr zu verstehen, wir bilden uns ein, die Abläufe der globalen Finanzwelt seien nicht nachvollziehbar, dabei weiß jedes Kind, dass es nicht mehr verleihen darf als es hat, wir bilden uns ein, der Klimawandel sei nicht beherrschbar, dabei weiß jedes Kind, dass das, was man aufisst, nicht mehr da ist, wir bilden uns ein, Integration sei ungestaltbar, dabei weiß jedes Kind, dass es einem neuen Mitspieler den Ball auch mal zuspielen muss, damit der ein Tor schießen kann.
Wir behaupten, die Welt sei überkomplex und unübersichtlich, und was wir dabei, nebenher und klammheimlich behaupten, ist, dass wir selbst ohnmächtig und hilflos seien. Vielleicht ist das überhaupt der Zweck der ganzen Komplexitäts-Klage: dass sie uns entbindet davon, etwas zu tun, wer behauptet, die Finanzwelt sei undurchschaubar, erklärt zugleich, sie sei nicht zu kontrollieren, wer behauptet, moderne asymmetrische Kriege seien undurchdringlich, erhebt auch nicht mehr den Anspruch, sie zu unterbinden oder nach völkerrechtlichen Normen zu führen.“
Angestachelt, sich nicht dem Übermaß an Informationen geschlagen zu geben, könnte er ähnlich wie Julian Assange auf Berichte über Soldaten treffen, die wie er von Kampfeinsätzen zurück kamen und als erwachsene Männer auf den Schoß ihrer Eltern wollten und sich umbrachten; ihm könnten Artikel begegnen über deutsche Banken, die Transaktionen und Investitionen mit Herstellerfirmen von Streubomben, Landminen und ABC-Waffen tätigen; und er könnte die exponential wachsenden Exportzahlen deutscher Firmen nach Afghanistan seit Kriegsbeginn veröffentlichen. Im Verlauf seiner Recherche könnte sich ihm die Frage stellen, warum er sich damals entschied, für Deutschland in den Krieg zu ziehen, warum er dachte, mit dem Dienst an der Waffe seinen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft leisten zu können. Worin seine hehren Ziele bestanden, und wie sie an der schmutzigen Realität des Krieges zerbrachen. Immer wieder könnte sich in gedanklichem Zwiegespräch mit den toten Kameraden, den verletzten Kindern, der leidenden Zivilbevölkerung sein Gewissen zu Wort melden, und auf einem Nährboden aus Enttäuschungen und dem Gefühl eigener Unzulänglichkeiten könnte ein Ort voller Fragen erwachsen, die nie beantwortet werden könnten. Und dieser Ort, diese Leerstelle, könnte den Platz in seiner Seele eingenommen haben, die noch zu Soldaten-Zeiten von der Lessingschen „Ehre“ erfüllt war.
*) Simon Solberg verweist hier auf ein Buch mit dem Titel: „Der kommende Aufstand“ (Nautilus-Verlag, Deutsch von Elmar Schmeda), veröffentlicht von einer Gruppe, die sich selbst „Unsichtbares Komitee“ nennt. Das Buch „L'insurrection qui vient“ („Der kommende Aufstand“) wurde im Anschluss an die Krawalle in den Vorstädten vieler französischer Städte 2005 geschrieben und im März 2007 vom Comité invisible (Das unsichtbare Komitee) veröffentlicht. Die Autoren schreiben mit situationistischem Schwung und gleichzeitig düsterrevolutionärem Zorn eine „Ästhetik des Widerstands“ für das neue Jahrtausend. Gegen den kalten Markt und die übermächtigen Strukturen des Staates stellen sie den Traum von der Kommune, autarke Netzwerke, die sich entziehen, deren Mitglieder in die Anonymität abtauchen.
Angestachelt, sich nicht dem Übermaß an Informationen geschlagen zu geben, könnte er ähnlich wie Julian Assange auf Berichte über Soldaten treffen, die wie er von Kampfeinsätzen zurück kamen und als erwachsene Männer auf den Schoß ihrer Eltern wollten und sich umbrachten; ihm könnten Artikel begegnen über deutsche Banken, die Transaktionen und Investitionen mit Herstellerfirmen von Streubomben, Landminen und ABC-Waffen tätigen; und er könnte die exponential wachsenden Exportzahlen deutscher Firmen nach Afghanistan seit Kriegsbeginn veröffentlichen. Im Verlauf seiner Recherche könnte sich ihm die Frage stellen, warum er sich damals entschied, für Deutschland in den Krieg zu ziehen, warum er dachte, mit dem Dienst an der Waffe seinen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft leisten zu können. Worin seine hehren Ziele bestanden, und wie sie an der schmutzigen Realität des Krieges zerbrachen. Immer wieder könnte sich in gedanklichem Zwiegespräch mit den toten Kameraden, den verletzten Kindern, der leidenden Zivilbevölkerung sein Gewissen zu Wort melden, und auf einem Nährboden aus Enttäuschungen und dem Gefühl eigener Unzulänglichkeiten könnte ein Ort voller Fragen erwachsen, die nie beantwortet werden könnten. Und dieser Ort, diese Leerstelle, könnte den Platz in seiner Seele eingenommen haben, die noch zu Soldaten-Zeiten von der Lessingschen „Ehre“ erfüllt war.
*) Simon Solberg verweist hier auf ein Buch mit dem Titel: „Der kommende Aufstand“ (Nautilus-Verlag, Deutsch von Elmar Schmeda), veröffentlicht von einer Gruppe, die sich selbst „Unsichtbares Komitee“ nennt. Das Buch „L'insurrection qui vient“ („Der kommende Aufstand“) wurde im Anschluss an die Krawalle in den Vorstädten vieler französischer Städte 2005 geschrieben und im März 2007 vom Comité invisible (Das unsichtbare Komitee) veröffentlicht. Die Autoren schreiben mit situationistischem Schwung und gleichzeitig düsterrevolutionärem Zorn eine „Ästhetik des Widerstands“ für das neue Jahrtausend. Gegen den kalten Markt und die übermächtigen Strukturen des Staates stellen sie den Traum von der Kommune, autarke Netzwerke, die sich entziehen, deren Mitglieder in die Anonymität abtauchen.
Wie Major von Tellheim in die bürgerliche Gesellschaft katapultiert wurde
von Bettina Schültke
von Bettina Schültke
Major von Tellheim wird unehrenhaft aus der Armee entlassen. Zudem ist er mittellos. Seine Zukunftspläne brechen zusammen, weil er glaubt, „ohne Ehre“ und ohne Geld nicht mehr heiraten zu können.
Was verstehen wir heute unter dem Begriff der Ehre? Ist Ehre noch ein anzustrebender Wert? Heute ist Ehre zwar Gegenstand der anthropologischen und historischen Forschung, aber die Frage der eigenen Ehre wird im Westen selten zum Thema. Kulturen der Ehre sind Kennzeichen einer „anderen“, fremden Welt, gehören in unserer globalisierten, individualistischen und kosmopolitischen Welt zu den Kulturen der islamischen Länder, zur Mafia, zu afrikanischen Stämmen oder vielleicht noch zu Jugendbanden. Dabei lässt sich bei einer zunehmenden Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten beobachten, dass denjenigen, die nichts mehr haben – weder einen Beruf noch Vermögen –, was ihnen Ansehen oder eine Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft verschaffen könnte, oft ein gewisser Respekt, die Ehre zum einzigen und letzten Besitz wird. Dabei haftet die Ehre nicht so sehr am persönlichen Wert eines Menschen, sondern an seiner Stellung innerhalb seiner Familie oder einer bestimmten Gruppe.
Lessing lässt zwei moralische Systeme miteinander kollidieren. Vor dem Hintergrund einer sich nach gerade überstandenem Krieg neu formierenden und stark verändernden Gesellschaft zeigt er den Wertewandel moralischer Kategorien. Er konfrontiert Tellheim, einen Vertreter der alten feudal-aristokratischen Moral, mit einer Welt, die schon von der neuen bürgerlichen Moral bestimmt wird, die geprägt ist von der Macht des Geldes. Jean Racines Diktum „Ohne Geld ist die Ehre nur eine Krankheit“ wird Realität.
Tellheims Ehre war die Währung in der höfischen, feudalen Welt, nur über die persönliche Ehre konnte der Einzelne seine Stellung verbessern, wobei persönliches Glück und der Erwerb von Ehre emotional verknüpft waren. Im Gegensatz zu dem sich wirtschaftlich emanzipierenden Bürgertum war Tellheim materiell und ideell abhängig von den Normen des Hofes, in letzter Instanz vom König. Wenn dieser ihm wegen des Bestechungsverdachts die Ehre absprach, konnte auch nur er sie wiederherstellen, nicht seine Verlobte Minna. Da Tellheims Ehre durch eine anonyme Macht verletzt worden war, konnte er seinen Gegner, die „Generalkriegskasse“, nicht fordern. Der Ehrenkodex ist ein Überbleibsel aus der Feudalzeit, das heißt aus der Epoche eines fehlenden oder schwach entwickelten Zentralstaats, der Selbstjustiz und Übergriffe nicht verhindern konnte. Das heißt, der Ehrenkodex als eine typische Selbsthilfeinstitution stand in ständiger Konkurrenz zum rechtlich festgelegten Gewaltmonopol des Staats. Militärs verloren ihre Macht gegenüber dem Zentralstaat erst bei einer zunehmenden Pazifizierung der Gesellschaft.
In der neuen bürgerlichen Welt ist Geld die neue Währung. Der Bürger versucht, Wohlstand zu erwerben, und das Geld verhilft ihm zu einer Form von Ehre bzw. Ansehen. Bürgerliche Tugenden wie Mitleid, Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Liebe weichen die überkommenen Standeszugehörigkeiten auf. Die Untergebenen Franziska und Werner sind Minna und Tellheim freundschaftlich verbunden und nicht auf ihre Rolle als Dienstboten beschränkt.
Was verstehen wir heute unter dem Begriff der Ehre? Ist Ehre noch ein anzustrebender Wert? Heute ist Ehre zwar Gegenstand der anthropologischen und historischen Forschung, aber die Frage der eigenen Ehre wird im Westen selten zum Thema. Kulturen der Ehre sind Kennzeichen einer „anderen“, fremden Welt, gehören in unserer globalisierten, individualistischen und kosmopolitischen Welt zu den Kulturen der islamischen Länder, zur Mafia, zu afrikanischen Stämmen oder vielleicht noch zu Jugendbanden. Dabei lässt sich bei einer zunehmenden Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten beobachten, dass denjenigen, die nichts mehr haben – weder einen Beruf noch Vermögen –, was ihnen Ansehen oder eine Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft verschaffen könnte, oft ein gewisser Respekt, die Ehre zum einzigen und letzten Besitz wird. Dabei haftet die Ehre nicht so sehr am persönlichen Wert eines Menschen, sondern an seiner Stellung innerhalb seiner Familie oder einer bestimmten Gruppe.
Lessing lässt zwei moralische Systeme miteinander kollidieren. Vor dem Hintergrund einer sich nach gerade überstandenem Krieg neu formierenden und stark verändernden Gesellschaft zeigt er den Wertewandel moralischer Kategorien. Er konfrontiert Tellheim, einen Vertreter der alten feudal-aristokratischen Moral, mit einer Welt, die schon von der neuen bürgerlichen Moral bestimmt wird, die geprägt ist von der Macht des Geldes. Jean Racines Diktum „Ohne Geld ist die Ehre nur eine Krankheit“ wird Realität.
Tellheims Ehre war die Währung in der höfischen, feudalen Welt, nur über die persönliche Ehre konnte der Einzelne seine Stellung verbessern, wobei persönliches Glück und der Erwerb von Ehre emotional verknüpft waren. Im Gegensatz zu dem sich wirtschaftlich emanzipierenden Bürgertum war Tellheim materiell und ideell abhängig von den Normen des Hofes, in letzter Instanz vom König. Wenn dieser ihm wegen des Bestechungsverdachts die Ehre absprach, konnte auch nur er sie wiederherstellen, nicht seine Verlobte Minna. Da Tellheims Ehre durch eine anonyme Macht verletzt worden war, konnte er seinen Gegner, die „Generalkriegskasse“, nicht fordern. Der Ehrenkodex ist ein Überbleibsel aus der Feudalzeit, das heißt aus der Epoche eines fehlenden oder schwach entwickelten Zentralstaats, der Selbstjustiz und Übergriffe nicht verhindern konnte. Das heißt, der Ehrenkodex als eine typische Selbsthilfeinstitution stand in ständiger Konkurrenz zum rechtlich festgelegten Gewaltmonopol des Staats. Militärs verloren ihre Macht gegenüber dem Zentralstaat erst bei einer zunehmenden Pazifizierung der Gesellschaft.
In der neuen bürgerlichen Welt ist Geld die neue Währung. Der Bürger versucht, Wohlstand zu erwerben, und das Geld verhilft ihm zu einer Form von Ehre bzw. Ansehen. Bürgerliche Tugenden wie Mitleid, Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Liebe weichen die überkommenen Standeszugehörigkeiten auf. Die Untergebenen Franziska und Werner sind Minna und Tellheim freundschaftlich verbunden und nicht auf ihre Rolle als Dienstboten beschränkt.
Dieser Paradigmenwechsel vollzieht sich im Kontext ökonomischer Ordnungen wie Schulden machen, Geld leihen und Geld verwalten. Die Figuren gehen neben ihren privaten Beziehungen zugleich Geldbeziehungen ein. Minnas Streich, ihr „corriger la fortune“, mit dem sie Tellheim wiedergewinnen will, muss scheitern, weil Tellheims höfisches Tugendsystem nicht zwischen privatem und öffentlichem Engagement unterscheidet. Ihren Versuch, ihn davon zu überzeugen, dass sein persönliches Glück nicht an den Begriff der Ehre und seine Stellung in der höfischen Welt gekoppelt ist, kann er nicht verstehen. In der bürgerlichen Gesellschaft funktionieren Privatheit und Öffentlichkeit nach gegenläufigen Prinzipien, weil im Rahmen der bürgerlichen Moral im Privaten etwas zur Ehre gereichen kann, was im Öffentlichen, Geschäftlichen völlig untauglich ist. Der Geschäftsmann muss auf seinen Vorteil bedacht sein, während allgemein die Regel gilt, einen Freund übervorteilt man nicht. Tellheim verhält sich noch als Edelmann, wo schon der Geschäftsmann gefordert ist. Er erkennt die feudale Macht auch noch ex negativo an.
Weder Minna noch der Zuschauer erfasst bis zur Mitte des vierten Akts die prekäre Lage Tellheims. Sein Beharren auf der Unversehrtheit seiner Ehre wirkt lächerlich verstockt, zunächst nur am Geld orientiert. Lessing spielt mit den falschen Urteilen der Zuschauer, es geht nicht um Minnas Spiel um Geld und Ringe, sondern er inszeniert den Umgang mit der Instabilität und Undurchschaubarkeit der Weltverhältnisse. Die Autonomie des Menschen, seine Selbstgewissheit werden angetastet. Die glückliche Lösung der Komödie macht das Erlebnis des Ausgeliefertseins und der Mehrdeutigkeit und Undurchsichtigkeit nicht rückgängig. Tellheim bekommt nicht Recht, sondern es wird ihm Gnade erwiesen.
Tellheim lässt sich auch als eine aufklärerische Gegenfigur zu dem antiken Oedipus lesen. Er kann Minnas Intrige mit dem Verlobungsring nicht durchschauen, weil er zu stark in seiner Vorstellung der Vorgänge gefangen und damit verblendet ist. Seine Blindheit geht so weit, dass er sogar die Realität verleugnet, noch nicht einmal den Ring erkennt. Wie Oedipus sein Unglück nicht sieht, sieht Tellheim sein Glück nicht. Die Blindheit bietet Oedipus nur Schutz vor der Katastrophe, solange er nicht zur Kenntnis, in diesem Fall zur Selbsterkenntnis, vorstößt. Als er seine Taten erkennt, sticht er sich mit zwei goldenen Nadeln seine Augen aus. Tellheim erkennt erst, nachdem er sehend geworden ist, wie glücklich er eigentlich sein könnte. Seine Blindheit kommentiert er am Ende als Zeichen psychischer und intellektueller Beschränktheit. Es ist ein Appell des Aufklärers Lessing, Zutrauen zum Wagnis der Wahrheitssuche zu fassen: Glück und Erkenntnis liegen nahe beieinander.
Bettina Schültke arbeitete als Dramaturgin u. a. am Deutschen Theater in Berlin. In Dresden begleitete sie die Inszenierung von „Anatevka“. Ihr Text entstand für die Saisonvorschau 2010.2011.
Weder Minna noch der Zuschauer erfasst bis zur Mitte des vierten Akts die prekäre Lage Tellheims. Sein Beharren auf der Unversehrtheit seiner Ehre wirkt lächerlich verstockt, zunächst nur am Geld orientiert. Lessing spielt mit den falschen Urteilen der Zuschauer, es geht nicht um Minnas Spiel um Geld und Ringe, sondern er inszeniert den Umgang mit der Instabilität und Undurchschaubarkeit der Weltverhältnisse. Die Autonomie des Menschen, seine Selbstgewissheit werden angetastet. Die glückliche Lösung der Komödie macht das Erlebnis des Ausgeliefertseins und der Mehrdeutigkeit und Undurchsichtigkeit nicht rückgängig. Tellheim bekommt nicht Recht, sondern es wird ihm Gnade erwiesen.
Tellheim lässt sich auch als eine aufklärerische Gegenfigur zu dem antiken Oedipus lesen. Er kann Minnas Intrige mit dem Verlobungsring nicht durchschauen, weil er zu stark in seiner Vorstellung der Vorgänge gefangen und damit verblendet ist. Seine Blindheit geht so weit, dass er sogar die Realität verleugnet, noch nicht einmal den Ring erkennt. Wie Oedipus sein Unglück nicht sieht, sieht Tellheim sein Glück nicht. Die Blindheit bietet Oedipus nur Schutz vor der Katastrophe, solange er nicht zur Kenntnis, in diesem Fall zur Selbsterkenntnis, vorstößt. Als er seine Taten erkennt, sticht er sich mit zwei goldenen Nadeln seine Augen aus. Tellheim erkennt erst, nachdem er sehend geworden ist, wie glücklich er eigentlich sein könnte. Seine Blindheit kommentiert er am Ende als Zeichen psychischer und intellektueller Beschränktheit. Es ist ein Appell des Aufklärers Lessing, Zutrauen zum Wagnis der Wahrheitssuche zu fassen: Glück und Erkenntnis liegen nahe beieinander.
Bettina Schültke arbeitete als Dramaturgin u. a. am Deutschen Theater in Berlin. In Dresden begleitete sie die Inszenierung von „Anatevka“. Ihr Text entstand für die Saisonvorschau 2010.2011.