Uraufführung 23.10.2011 › Schauspielhaus

Familienbande

ein musikalischer Abend unter Verwandten
von Franz Wittenbrink und Lutz Hübner
Auf dem Bild: Annett Krause, Felix Räuber, Susanne Jansen, Philipp Otto, Ines Marie Westernströer, Benjamin Höppner, Rosa Enskat
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Annett Krause
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Philipp Otto, Helga Werner
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Philipp Otto, Helga Werner
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Felix Räuber, Anya Fischer
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Felix Räuber, Anya Fischer
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Anya Fischer, Felix Räuber
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Annett Krause, Felix Räuber
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Anya Fischer, Annett Krause, Benjamin Höppner, Ines Marie Westernströer
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Anya Fischer, Benjamin Höppner
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Annett Krause, Rosa Enskat, Philipp Otto, Susanne Jansen, Ines Marie Westernströer, Helga Werner, Anya Fischer
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Ines Marie Westernströer, Helga Werner, Annett Krause, Philipp Otto, Susanne Jansen, Anya Fischer
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Anya Fischer, Felix Räuber, Annett Krause
Foto: Matthias Horn
Auf dem Bild: Philipp Otto, Benjamin Höppner
Foto: Matthias Horn

Handlung

Der kleine Festsaal eines Landgasthofes in der Provinz, eine Flügeltür zum großen Festsaal, in dem eine Familienfeier stattfindet. Zu Großvaters 80. Geburtstag sind sie alle zusammengekommen, um harmonisch den Festtag zu begehen. Doch wie soll das gut gehen bei einer Großfamilie, die wie jede vernünftige Sippe einige Leichen im Keller hat? Sohn Albert hat sich finanziell übernommen – aber keiner darf es wissen. Geschwister und Schwägerinnen und Schwager können sich nicht riechen, die Cousins und Cousinen öden sich an. Der Alkohol löst die Zungen und befeuert die schwelenden Familienbrände. Und so läuft die harmonische Zusammenkunft auf das absurdeste aus dem Ruder – mit niemandem streitet es sich so schön wie mit der buckligen Verwandtschaft! „Familienbande“ ist ein Singspiel, für das der Musiker und Regisseur Franz Wittenbrink und der Autor Lutz Hübner erstmals zusammenarbeiteten. Hübner ist in Dresden vor allem bekannt durch die Abende „Frau Müller muss weg“ und „Die Firma dankt“.

Besetzung

Regie und musikalische Leitung
Franz Wittenbrink
Text
Lutz Hübner
Bühne
Christoph Schubiger
Kostüme
Nini von Selzam
Ton
Torsten Staub, Marion Reiz
Licht
Michael Gööck
Dramaturgie
Robert Koall
Regina, 76 Jahre, die Matriarchin
Helga Werner
Johanna, 45 Jahre, Reginas Tochter
Rosa Enskat
Helena, 16 Jahre, Johannas Tochter
Ines Marie Westernströer
Sabine, 45 Jahre, Reginas Schwiegertochter
Susanne Jansen
Nele, 17 Jahre, Sabines Tochter
Annett Krause
Albert, 41 Jahre, Reginas Sohn
Philipp Otto
Polly, 15 Jahre, Alberts Tochter
Anya Fischer
Polly, 15 Jahre, Alberts Tochter alternierend
Mila Dargies
Julius, 16 Jahre, Reginas Enkel
Benjamin Höppner
Johnny, 18 Jahre, Gastwirtssohn
Felix Räuber
Josef, 80 Jahre, der Jubilar, Reginas Mann
Philipp Otto

Musiker

am Klavier
Franz Wittenbrink
am Klavier alternierend
an Gitarre, Bass, Cello, Zither, Tuba, Trompete, Mundharmonika, Akkordeon und weitere
Peter Pichler
am Schlagzeug
Felix Räuber

Video

Familienbrände

Der kleine Festsaal eines Landgasthofes in der Provinz, eine Flügeltür zum großen Festsaal, in dem eine Familienfeier stattfindet. Zu Großvaters 80. Geburtstag sind sie alle zusammengekommen, um harmonisch den Festtag zu begehen. Doch wie soll das gut gehen bei einer Großfamilie, die wie jede vernünftige Sippe einige Leichen im Keller hat?
Sohn Albert hat sich finanziell übernommen – sein alter Herr darf es nicht wissen. Und der Rest der Mischpoke schon gar nicht. Seinem Bruder kann er geliehenes Geld nicht zurückzahlen. Geschwister und Schwägerinnen und Schwager können sich nicht riechen, die Cousins und Cousinen öden sich an. Der Alkohol löst die Zungen und befeuert die schwelenden Familien­brände. Und so läuft die harmonische Zusammenkunft auf das absurdeste aus dem Ruder – mit niemandem streitet es sich so schön wie mit der buckligen Verwandtschaft! Eigentlich hasst man sie ja, diese Anlässe. Aber Hauptsache, Opa freut sich.

Ein Stück zu schreiben bedeutet immer die Konstruktion dessen, was nicht im Dialog gesagt wird, das Unausgesprochene ist das Fleisch einer Geschichte. Man muss Räume offen lassen. Räume, welche die Musik füllen kann. In einem Libretto müssen diese Räume sehr groß sein.
Man muss Räume offen lassen. Räume, welche die Musik füllen kann. In einem Libretto müssen diese Räume sehr groß sein. Ein Libretto, das ohne Musik funktioniert, ist keines. Es ist ein Angebot, ein Startpunkt, um mit der Musik eine Geschichte erzählen zu können, die weit über die eigentliche Fabel hinausgeht, die das Libretto umreißt. Anders gesagt: Je einfacher – ja man könnte fast sagen: unterkomplexer – ein Libretto ist, desto größer ist die Chance der Musik, komplex zu werden.
Das bedeutet auch (vor allem, wenn man den Weg wählt, das Libretto vor der Musik zu schreiben), dass man ein Blinddate hat. Wie der Abend dann wird, ist eine Überraschung.
Das ist eine anregende Schreiberfahrung, denn so werden die Figuren und die Geschichte aus zwei Perspektiven geschaffen. Das ist ein Abenteuer – und das sucht man ja schließlich immer.

Lutz Hübner

Die Lieder

Think Aretha Franklin - Jansen

Allein, allein Polarkreis 18 - Räuber

Allein-allein-Blues Polarkreis 18 / Wittenbrink - Otto

Let’s have a party Wanda Jackson - Krause

Onkel Max ist ein Verbrecher Hübner / Wittenbrink - Enskat

Hey, Opa! Hübner / Wittenbrink - Westernströer

Schlampen-Rap Hübner / Höppner // Wittenbrink - Höppner

Was hat die Pubertät bloß aus Dir gemacht? Hübner / Dylan - Fischer / Krause

Zärtliche Liebe van Beethoven - Höppner

Manchmal wird aus einem Fremden ... Hübner / Wittenbrink - Jansen

Keiner will was von Dir Hübner / Wittenbrink - Jansen

Halt's Maul! Hübner / Wittenbrink - Enskat / Jansen / Ensemble

Was soll der Lärm? Hübner / Wagner // Wittenbrink - Otto

Mutti Hübner / Wittenbrink - Otto
Dass es so was echt noch gibt Hübner / Wittenbrink - Fischer

Wenn ich Du wär Hübner / Wittenbrink - Höppner

If love's a sweet passion Henry Purcell / Wittenbrink - Räuber

You’re the one that I want Grease - Krause / Räuber

Grotesksong Die Ärzte - Westernströer

Goodbye Richgirl Hübner / Wittenbrink - Fischer

Wie das geht Hübner / Wittenbrink - Otto

Ich will Glanz (und manchmal Sex) Hübner / Wittenbrink - Jansen

La famiglia furiosa Hübner // Gluck / Mozart / Verdi / Wittenbrink - Ensemble

It’s not me Hübner / Wittenbrink - Räuber

Finale Hübner / Wittenbrink - Fischer / Höppner / Krause / Räuber / Westernströer

Zum Geburtstag gut Nacht traditionell - Fischer / Höppner / Krause / Westernströer

Familie

Die erste Hälfte des Lebens wird von den Eltern versaut,
die zweite von den Kindern

von Lutz Hübner
EINS Altsteinzeit. Gegen Abend. Eine Horde sitzt um das Lagerfeuer und vertilgt die letzen Reste einer Mahlzeit (Mammut mit Wiesenkräutern an Wurzelsalat). Munteres Geplapper, ein junger Homo sapiens kaut eher lustlos an seiner Keule und hört mit halbem Ohr Onkel Uluk zu, der zum wiederholten Mal erzählt, wie er vor fünf Monden dieses riesige Wollnashorn mit einem einzigen Schlag auf den Schädel erledigt hat („Ein Schlag! Nur ein Schlag! Uh!“). Der junge Jäger pult sich die letzten Fleischreste aus der Kauleiste, sein Blick schweift über die schmatzende, grunzende Horde, und plötzlich überfällt ihn Melancholie.
Der Sauhaufen da ist meine Familie, mit denen bin ich verwandt. Werde ich irgendwann genauso wie die?
Unversehens fühlt er sich unendlich trostlos, er wirft den Knochen in die Glut und zieht sich in die Höhle zurück. Er will allein sein, er hat Kopfschmerzen. Ein Schritt zum modernen Menschsein ist getan. Ein historischer Moment. Ein Mensch verzweifelt an seiner Familie.

ZWEI Das älteste erhaltene Theaterstück beschäftigt sich mit dem Krieg. Ein edles Werk, ein hoher Gesang, leider etwas langatmig. Doch gleich danach kommen Familiengeschichten, und ab da wird es wirklich unterhaltsam. Eifersucht, zickige Töchter, ratlose Söhne, Mord und Totschlag … Was die griechische Klassik an familiären Zumutungen und Gemeinheiten auf die Bühne brachte, setzt bis heute Maßstäbe. Alle kommen nicht voneinander los, alle haben Riesenprobleme mit der buckligen Verwandtschaft und kein Konflikt wird so gelöst, wie man das bei erwachsenen Menschen erwarten könnte. Alles, was danach kam, ist Variation.
Der Familienkrach steht am Anfang der abendländischen Zivilisation.

DREI Wir sprechen hier nicht von der Kernfamilie, sondern von der Mischpoke, also von allen, die man zähneknirschend zu Jubiläen und runden Geburtstagen einladen muss.
Die Tante, zu der man als Kind von den erschöpften Eltern in den Schulferien abgeschoben wurde, der Onkel, von dem man nicht genau weiß, wie man mit ihm verwandt ist, die Cousine, die einen immer schon subtil erniedrigt hat, und der stinklangweilige Cousin, mit dem man immer spielen musste, nur weil man gleichaltrig ist.
Großtanten, Schwippschwager, verstörte alte Frauen, die es irgendwann in die Familie geschwemmt hat und die jetzt irgendwie dazugehören … Das ist die Sippe, die im Auto auf dem Weg zur Familienfeier durchgehechelt wird und dann wieder auf dem Rückweg, mit tollen neuen Informationen („Grete wird immer fetter. Nach dem Kaffee hat sie auch irgendwelche Tabletten genommen.“).
Dazwischen war die Familienfeier, lange Stunden in einem Paralleluniversum. Da manifestiert sich Familie, nur da. Der Besuch einer einzelnen Tante kann einen nicht aus der Bahn werfen. Nur in der Ballung entfaltet die Familie ihre ganze surreale Pracht, und auch das nur wenn man sich in großen Abständen sieht.
Die Horde, die jeden Sonntag zusammen Braten isst, gilt nicht. So richtig rockt Familie nur, wenn man ein völlig sippenunabhängiges Leben führt. Man kommt aus dem normalen Leben (der trojanische Krieg / der Berufsalltag) und ist plötzlich in einem Palast des Wahnsinns (Mykene / Landgasthof Drei Lilien) gefangen. Schlagartig ist der Familiendunst, aus dem man sich in ein erwachsenes Leben geflüchtet hat, wieder da. Es ist nicht vergangen, es ist real, und es fragt einen, ob man immer noch Briefmarken sammelt.
VIER Der normale Verlauf. Man trifft sich zu Kaffee und Kuchen, kommt aufgrund der Tischkärtchen genau neben den Leuten zu sitzen, neben denen man nicht sitzen wollte, bringt mühsam ein Gespräch ins Laufen (oder wird brachial zugetextet), verdirbt sich mit zu viel Torte den Magen, fühlt sich flau, trinkt einen Obstler, geht dann spazieren und wird nach der Rückkehr mit einem Drei-Gänge-Menü gemästet, das man nur durch Zufuhr von größeren Mengen Alkohol verdauen kann. Dazwischen machen Kinder widerwillig ein Programm, das keiner wirklich hören will, und werden Festreden gehalten, die den Jubelanlass in epischer Breite würdigen.
Die minderjährigen Familienmitglieder packen irgendwann entweder ihre elektronischen Spielgeräte aus oder sind so von Langweile zermürbt, dass nur noch hysterisches Gegacker zu hören ist. Der Rest kommt spätestens nach dem Dessert ins Saufen (wegen dieses Völlegefühls oder wegen sechs Stunden neben der Tante, die von nässenden Ausschlägen erzählt). Richtig zurechnungsfähig ist keiner mehr, und da kann es manchmal interessant werden.

FÜNF 90 Prozent aller Familienfeiern gehen unspektakulär über die Bühne, aber es gibt Konstellationen und Ereignisse, bei denen plötzlich eine Leiche aus dem Familienkeller mit am Tisch sitzt, ein dunkles Geheimnis, eine Bösartigkeit, die aus der friedlich angeschickerten Horde eine Meute macht. Tag des Gerichts.
Ein Bankrotteur, der alle angepumpt hat, Erbschleichereien, Verwandte, die ihre Pfoten nicht bei sich behalten konnten, ungeklärte Vaterschaften … Ein Thema explodiert an der festlichen Tafel, und alle alten Rechnungen werden gleich mit dazugepackt. Es gibt nichts, was vergeben und vergessen ist, alles ist immer präsent, keine Gemeinheit verjährt, und jetzt hat man auch die einmalige Chance zu hören, was die anderen auf der Autofahrt zur Feier alles durchgehechelt haben. Jetzt erfährt man staunend, was alle über alle wissen, und es ist klar, warum das Theater seinen Höhenflug mit Familiengeschichten begann.
Es ist Theater in Reinform, mit tragischen Helden, jungen Naiven, komischen Alten, Schmierenschauspielern und geifernden Erinnyen. Und das Beeindruckende ist, dass die Vorstellung wiederholbar ist. Keiner verlässt die Truppe, alle kommen das nächste Mal wieder, um sich erneut zu streiten, zu versöhnen, die Fronten zu wechseln … Es gibt praktisch kein Problem, das so gravierend ist, dass eine Familie auseinanderbricht. Nächste Vorstellung am nächsten Geburtstag, Einladung folgt und man muss da hin.
Das Seltsame jedoch ist, dass es einem fehlen würde.
Es wäre furchtbar, wenn es das nicht mehr gäbe, man würde sich verstoßen fühlen, man will dabei sein. Also geht man wieder hin.
Was machst du denn da allein in der Höhle, Junge. Komm doch zu uns, es gibt gleich Waldbeeren. Hab ich dir eigentlich schon erzählt, wie ich mit einem Schlag ein Wollnashorn erledigt habe?

Lutz Hübner wurde 1964 in Heilbronn geboren. Er ist einer der meistgespielten deutschen Gegenwartsdramatiker. Bevor er 1994 begann, Stücke zu schreiben, arbeitete er als Schauspieler. Inzwischen sind über 30 Dramen von ihm erschienen und auf zahlreichen Bühnen im In- und Ausland zur Aufführung gekommen. Am Staatsschauspiel Dresden waren bereits zwei Uraufführungen von ihm zu sehen: „Frau Müller muss weg“ und sein Stück über die neue Arbeitswelt „Die Firma dankt“. Die Frankfurter Rundschau nennt ihn den „Vorreiter einer neuen, konkreten, gesellschaftsbezogenen Dramatik“.

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