Uraufführung 05.04.2019
› Schauspielhaus
Eine Straße in Moskau
nach dem Roman von Michail Ossorgin
aus dem Russischen von Ursula Keller
in einer Spielfassung von Jörg Bochow und Sebastian Baumgarten
aus dem Russischen von Ursula Keller
in einer Spielfassung von Jörg Bochow und Sebastian Baumgarten
Handlung
Im Zentrum von Michail Ossorgins Roman steht die Familie eines Ornithologen und das Haus, das sie bewohnt in der Straße Siwzew Wrashek – in der Nähe des berühmten Moskauer Arbat. Dieses Haus und seine Bewohner, zu denen neben den Wissenschaftlern, Künstlern und Angestellten auch die Tiere gehören, bilden einen Mikrokosmos, in dem sich das Weltgeschehen spiegelt. Die Handlung setzt kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs ein und erstreckt sich bis ins Jahr 1920. Tage und Jahre, die bis heute die Weltgeschichte prägen. 1914 kulminierten hundert Jahre Industrialisierung und Globalisierung im ersten industriell geführten Massenmord des Weltkriegs. Aus ihm entsprang die Revolution von 1917. Ossorgin war selbst beteiligt an der Revolution von 1905, 1922 wird er zusammen mit vielen Intellektuellen verbannt und gelangt auf dem sogenannten Philosophenschiff nach Westeuropa. Trotzdem sieht Ossorgin in den Wirren der Revolution eine Übergangsphase, und so zeigt er die Helden seines Romans im Versuch, in dieser Umbruchszeit zu überleben und eine neue Rolle zu finden. Ossorgin schildert das Geschehen aus vielfältigen Perspektiven: aus der Tanjas, der 17-jährigen Enkelin des ‚Vogelprofessors‘, aus der des Kriegsinvaliden Stolnikow, aus der des verhafteten Philosophen Astafjew, aus der der Tiere sowie aus der der Sonne, die das menschliche Streben begleitet. EINE STRASSE IN MOSKAU war 2015, als man den Roman wiederentdeckte, eine literarische Sensation, die vor allem durch ihre poetische Sprache, die an die Ästhetik Michail Bulgakows heranreicht, beeindruckt.
Dauer der Aufführung: 3 Stunden und 50 Minuten.
Eine Pause.
Eine Pause.
Besetzung
Regie
Sebastian Baumgarten
Bühne und Kostüme
Christina Schmitt
Musik
Stefan Schneider
Video / Film
Philipp Haupt
Licht
Dramaturgie
Tanja
Luise Aschenbrenner
Professor Iwan Alexandrowitsch / Denissow
Wassja / Offizier / N („Dserschinski“)
Lukas Rüppel
Dunja / Präsidentin / Sawinkow
Andrej / Offizier / Anna Klimowna
Ehrberg / Astafjew
Thomas Wodianka
Stolnikow / Brikman
Onkel Borja / Offizier / Kaschtanow / Protassow
Grigori Sawalischin / Stimme
Pianist Eduard Lwowitsch
Jörg Bochow und Sebastian Baumgarten haben eine Spielfassung vorgelegt, die die Multiperspektivität des Romans aufnimmt, wenn nicht gar noch weiterdreht. Als Regisseur umschifft Baumgarten, dessen Opern-Background man diesem genau komponierten Abend anmerkt, dann elegant die Gefahr, die Übersicht über die große Zahl an Figuren zu verlieren, die die Adaption eines solchen Schinkens birgt.
Ossorgins Monumentalwerk wird durch eine mehrsprachige Metaebene ergänzt, auf der anhand des historischen Stoffs unsere Gegenwart und vor allem die Zukunft der Welt erklärt werden soll: ‚Wir stehen erstmals an einem Punkt, an dem ökonomische Ungleichheit in biologische Ungleichheit verwandelt‘ werden könne, sagt eine Figur auf Englisch. Eine andere antwortet, dass ‚Erzählungen nur noch als produktives Delirium‘ funktionierten und klärt somit hintenrum auf, was die dramaturgische Maxime des Abends ist, Chaos gewinnt gegen (die Erzählung von) Kommunismus. Ob Bühne und Kostüm, Musik und Video, Besetzung und Ensembleleistung oder eben die offensiv offene Dramaturgie: Dieses Delirium ist so virtuos erschaffen, dass es nicht nur produktiv, sondern vor allem eine wahre Freude ist.“
Baumgartens einfallsreiche Inszenierung zeigt die besagte STRASSE IN MOSKAU im allerbesten Sinne als das, was sie ist; nämlich ein intelligent-informativer Historienschinken mit Härtefall-Garantie.
Der Fixstern des Abends trotzt in Gestalt von Luise Aschenbrenner 230 Minuten lang gleichbleibend gütig und opportunismusfern den Zumutungen der (neuen) Zeit, wobei es sicher nicht von Nachteil ist, dass sie allseits umschwärmt wird. Der intellektuell durchaus über-, erotisch allerdings deutlich untertourige Lieblingsstudent ihres Vaters, Wassja (Lukas Rüppel), hat gegenüber dem goldlockigen Jung-Offizier Stolnikow folgerichtig das Nachsehen. Ein taktisch-geschickt eingefädelter Engtanz während des Fronturlaubs schafft verheißungsvolle Perspektiven – bis Stolnikow wenige Szenen später auf einem fahrenden Bett als ‚Stumpf‘ an die Rampe geschoben wird: Der einstige Salon-Beau, dem wegen einer Kriegsverletzung beide Arme und Beine amputiert werden mussten, ist zu einem zynischen Pflegefall frühvergreist, den Moritz Kienemann grandios aggressiv-depressiv aufs Szenario brüllt.
Den einstmals prollig-verdrucksten Weltkriegsdeserteur und Bolschewisten Andrej (Betty Freudenberg) indes – den Bruder der bei Nadja Stübiger in geradezu liebevoller Bodenständigkeit auftrumpfenden Professoren-Haushälterin Dunja –, haben die Zeiten von ganz unten nach ganz oben gespült. Traute er sich früher bestenfalls zwecks konspirativen Almosenempfangs zur Schwester in die Herrschaftsküche, hält er jetzt als ‚Vorsitzender des Bezirkssowjets‘ breitbeinig Hof unter der personifizierten Revolution selbst und frönt seiner speziellen Kulturvokabular-Legasthenie: Ein überlebensgroßer, dreiköpfiger roter Drache ziert sein Büro, dessen Augen bei besonderen Stilblüten aus dem real-sozialistischen Proletarier-Repertoire extraordinär rot aufleuchten.
Tanja und ihr gleichmütig durch die Jahre trottelnder Großvater (Holger Hübner) haben Glück: Sie verlieren lediglich ihr Eigentum und müssen die Salon-Treffen auf lose Bücherstapel verlagern, behalten aber ihr Leben (und offenbar auch weitestgehend sich selbst). Wesentlich härter trifft es den Philosophen Astafjew, der von einem sensationellen Thomas Wodianka (als Gast) in einer Mischung aus sarkastischer Systemverachtung, persönlicher Getroffenheit, affektiv aufflackerndem Angriffswillen und einer wahrhaft stoischen Gelassenheit gespielt wird, die der philosophischen Profession wirklich alle Ehre macht. Astafjew muss sein Restleben zwischen der bolschewistischen Revolution und seiner finalen Exekution als Berufsclown fristen. Und allein dafür, wie er diesen Job nutzt, um die historischen Verhältnisse mit einer bitterbösen Deklamation von Ernst Jandls ‚schtzngrmm‘ auf den Punkt zu bringen, hätte sich die Dresdner STRASSE IN MOSKAU schon gelohnt.“
In Ossorgins Roman, von Ursula Keller übersetzt und 2015 für ‚Die andere Bibliothek‘ wiederentdeckt, wird, wie auch in der Spielfassung von Jörg Bochow und Sebastian Baumgarten, viel diskutiert, agitiert und argumentiert. Das aber hat eine durchgehend hohe Qualität und, wie meist bei Baumgarten, eine sehr konsequente Personenführung.
Eine tiefbewegende Anklage, wie sie aktueller kaum sein könnte, ganz ohne heutige Beispiele zu nennen, geht das unter die Haut.“
Kulminationspunkt des Figurenarsenals ist die junge, hoffnungsvolle Tanja. Luise Aschenbrenner spielt diesen starken Charakter. Sowohl die Figur als auch ihr leidenschaftliches Spiel ist souverän großherzig und großartig, wie auf der Bühne mit charmanter Ironie betont wird. Schicksalhaft treibt sie mit den anderen durch eine Epoche des krassen Umbruchs, wobei der Autor Michail Ossorgin durch Orte und Zeiten springt. Experimentierfreudig schneidet er Traumsequenzen in den Text und wechselt oft die Erzählperspektive. Anfangs hält sich die Regie an das moderne Konzept der Vorlage. So kippt die Kriegsbegeisterung von 1914 rasch in Ernüchterung, wenn der schneidige Offizier Stolnikow ohne Gliedmaßen von der Front kommt. Morbid spielt Moritz Kienemann diese verzweifelte, verbitterte Figur. Nach der Revolution folgen Hunger, Chaos und Willkür. Geistige Arbeit wird überflüssig, aber der einfache Bauer Andrej, energisch gespielt von Betty Freudenberg, kann plötzlich als Kommandeur die Macht missbrauchen. Und Tanja muss zusammen mit dem Philosophen Astafjew Arbeiterklubs bespaßen. Herrlich bizarr und äußerst körperlich zeigt der Gastspieler Thomas Wodianka diese zerrissene Figur: Er liebt Tanja, hasst die Masse Mensch und spielt dadaistische Clownsnummern, die eher schockieren als belustigen.
Doch der Regie geht es um etwas anderes, als nur das Geschehen des Buches abzubilden. So mixt man eigene Texte hinzu, würzt das Original mit ironischem Unterton. Ausgehend vom historisch-maschinellen Massenmord zielt Baumgarten mit seinem starken Ensemble auf eine Industrie- und Technikkritik: Der Mensch ist entbehrlich, heißt es polemisch. Es ist gleich, ob er im Kommunismus, Kapitalismus oder in einem anderen -ismus zugrunde geht. Die Maschinen haben längst durch einen verfehlten Fortschrittsglauben gesiegt. Der Kampf um die innere Freiheit des Menschen scheint vergessen. Zugunsten dieser überzeugenden Lesart verzichtet die Inszenierung auch selbstbewusst auf eine Liebesgeschichte des Romans.
Wie in früheren Inszenierungen, etwa ANTIGONE oder DIE NIBELUNGEN, kreiert Regisseur Baumgarten Gegenwartsbezüge kreativ und durchdacht. Videomontagen von Philipp Haupt aus historischem Kriegsmaterial, düsteren Industrielandschaften sowie Militär- und Raumfahrttechnik kommentieren permanent das Geschehen. Karikierende Kostüme überhöhen, Soundteppiche und Klaviermusik von Stefan Schneider strukturieren das Ganze. Auch wenn nach der Pause das Spiel zäh beginnt: Stets ist das Ensemble hoch konzentriert. Irgendwann sieht sich das Publikum live gefilmt als Arbeiterklub gespiegelt. Lukas Rüppel parodiert im Schlagerkostüm urkomisch die Moderation stumpfer Massenunterhaltung und da passiert es: Tanja, also Luise Aschenbrenner, singt mit Hingabe einen feschen Song, prompt fühlen sich alle im Saal ein und sind nachhaltig gerührt. Wie leicht ist doch auch der postmoderne Arbeiter, Bürger des 21. Jahrhunderts, zu unterhalten! Wie gleich sind ihnen auch die Abhängigkeit von Industrie und Computertechnologie.
So ist dieser Abend nicht nur ein Erklärungsbeitrag für den ewigen autoritären Staat in Russland. Sondern eben auch ein deutliches Warnsignal: für Rufe nach mehr Führung oder Inkaufnahme von Willkür. Und für die Romantisierung revolutionärer Ideen. Das Gesamtkunstwerk EINE STRASSE IN MOSKAU ist definitiv das bisher größte Ereignis der laufenden Spielzeit.“
Marx, Lenin, Piketty: Sebastian Baumgarten, 1969 geborener Ostberliner, hat keine Angst vor großen Namen, Bögen und Anforderungen. Jetzt besitzt Dresden einen neuerlichen Beweis seiner Gabe, eine Schauspielerbrigade zu einer opulenten Hochleistung zu treiben, deren Virulenz im Programmheft von Chefdramaturg Jörg Bochow unter ‚100 Jahre Zukunft‘ prägnant beschrieben wird.
Als Regisseur benutzt Baumgarten, wie Dresden spätestens seit WOZZEK (2004) und PETER GRIMES (2007) an der Semperoper und dem GOLDNEN TOPF (2010) hier weiß, gewöhnlich alle theatralen Mittel und setzt in einigen Bereichen weite Horizonte: Neben Witz, Sarkasmus und regelmäßigen absurden Interventionen ist das diesmal vor allem die großartige Bühne von Ausstatterin Christina Schmidt, die im Schauspielhaus schon Baumgartens Inszenierungen ANTIGONE und DIE NIBELUNGEN mitgestaltete.
Baumgarten gönnt allen Akteuren große Nummern: Thomas Eisen fährt als Borja mit einem Mondmobil gen Grenze, Holger Hübner darf als Dennisow den moralisch kollabierten Andrej in Form von Betty Freudenberg entsorgen, wobei diese auch als gute Tschekistenfrau Anna überzeugt. Über alledem schwebt Luise Aschenbrenner, als einzige Unbefleckte sympathisch zukunftsträchtig – sie reizt auch Lukas Rüppel als ‚Dserschinski‘, zuvor als weicher Wassja noch absolut ungefährlich, zum spontanen Nacktduschen. Ebenso großartig wie Moritz Kienemann, dessen kurzes Auftreten als arm- und beinloser Kriegsversehrter Gänsehaut erzeugt, agiert Thomas Wodianka als zerrissener Philosoph Astajew – dem die eigentliche Hauptrolle als ins Anthroposophische abdriftendem Ex-Revolutionär zufällt, der ob seiner Überzeugung allen Widrigkeiten trotzt und dem Proleten Sawalischin, furios janusköpfig von Sven Hönig gegeben, unbewusst zur entschlossenen Zukunft als Henker rät.
Klug sind auch die taffen Interventionen von Nadja Stübinger als kühle Präsidentin, die in einer rahmengebenden Regieebene die gängigen Irrtümer unseres Liberalismus erst per Film auf Russisch, später an der Rampe auf Englisch erläutert.
Jene Überfrachtung, einhergehend mit überbordender Ideenfülle plus anhaltender, großartiger Spielfreude und einem Feuerwerk subversiver Randanmerkungen, bringt den Abend auf rund 200 Minuten reiner Spielzeit plus Pause.“
Der Abend hat etwas Groteskes, manchmal fast Leichtes, Revueartiges.“
Die Inszenierung von Sebastian Baumgarten ist prall voller Ideen, sie kämpft, singt, philosophiert und zeigt mit ausgestreckten Fingern in die Gegenwart.“
Was tun mit dieser wundersamen Geschichte? Für Sebastian Baumgarten offenbar keine echte Frage, denn er lässt – wie zu erwarten war – eine Revue über die Bühne rollen. Handwerklich ist das hier solide gemacht. Starke Schauspieler.“
Uneingeschränktes Lob verdient die Ensembleleistung, nicht nur der Ausdauer wegen. Herauszuheben ist Luise Aschenbrenner als jugendliche Tochter Tanja, die wärmste und alle verbindende Figur.“