Uraufführung 23.09.2017
› Schauspielhaus
Der Weg ins Leben
nach Zeitzeugenberichten und unter Verwendung von Dokumenten sowie Texten von Anton Makarenko u. a.
Spielfassung von Jörg Bochow und Volker Lösch
Spielfassung von Jörg Bochow und Volker Lösch
Handlung
„Also muss man den neuen Menschen auf neue Weise schaffen.“
„Auf neue Weise, da hast du recht!“
„Und niemand weiß, wie. Und du – weißt du es nicht?“
„Nein, ich auch nicht.“
Der russische Bürgerkrieg, der auf die Revolution von 1917 folgte, hinterließ neben Tod und Verwüstung auch eine sehr große Zahl von verwahrlosten Straßenkindern, die bettelnd und stehlend durch die Städte zogen. Mit einer auf Kollektivbildung und handwerklicher Arbeit basierenden Erziehung wollten Pädagogen wie Anton Makarenko aus diesen Kindern und Jugendlichen einen „Neuen Menschen“ formen. Was als Utopie begann, wurde in der Stalin-Ära und später in der DDR zu einem Konzept zwangsweiser Umerziehung. In den sogenannten Jugendwerkhöfen und den Spezialheimen wurden die Bildungschancen und Entwicklungswege tausender Jugendlicher und vor allem ihre Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben gewaltsam behindert statt gefördert. Wie gehen die ehemaligen Heimkinder mit diesen Erfahrungen um, wie haben sie ihre eigenen Kinder nach der Wende erzogen? Aus Gesprächen und Berichten von 30 Zeitzeugen sowie aus zahlreichen Dokumenten und Texten entsteht ein Theaterabend, der den Bogen von 1920 bis in die Gegenwart spannt.
„Auf neue Weise, da hast du recht!“
„Und niemand weiß, wie. Und du – weißt du es nicht?“
„Nein, ich auch nicht.“
Der russische Bürgerkrieg, der auf die Revolution von 1917 folgte, hinterließ neben Tod und Verwüstung auch eine sehr große Zahl von verwahrlosten Straßenkindern, die bettelnd und stehlend durch die Städte zogen. Mit einer auf Kollektivbildung und handwerklicher Arbeit basierenden Erziehung wollten Pädagogen wie Anton Makarenko aus diesen Kindern und Jugendlichen einen „Neuen Menschen“ formen. Was als Utopie begann, wurde in der Stalin-Ära und später in der DDR zu einem Konzept zwangsweiser Umerziehung. In den sogenannten Jugendwerkhöfen und den Spezialheimen wurden die Bildungschancen und Entwicklungswege tausender Jugendlicher und vor allem ihre Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben gewaltsam behindert statt gefördert. Wie gehen die ehemaligen Heimkinder mit diesen Erfahrungen um, wie haben sie ihre eigenen Kinder nach der Wende erzogen? Aus Gesprächen und Berichten von 30 Zeitzeugen sowie aus zahlreichen Dokumenten und Texten entsteht ein Theaterabend, der den Bogen von 1920 bis in die Gegenwart spannt.
Dauer der Aufführung: 2 Stunden und 50 Minuten.
Eine Pause.
Eine Pause.
Besetzung
Regie
Bühne
Kostüme
Musik
Dramaturgie
Licht
Michael Gööck
Zeitzeugen
Ilona Enskat, Anette Gebel-Kozian, Stefan Lauter, Andreas Richter, Detlev Sadrinna
iwanka, jugendliche, erzieherin, genossin credo, jugendhelferin
Luise Aschenbrenner
saitschenko, jugendlicher, erzieher, alfred kurella, psychologe, beamter, andreas richter
karabanow, jugendlicher, erzieher, erich honecker, heimleiter
Malte Homfeldt
kalina, jugendliche, erzieherin, inge lange, frau richter
Hannah Jaitner
ushikow, jugendlicher, erzieher, walter ulbricht, heimleiter
warwara, jugendliche, erzieherin, margot honecker, chefärztin, marlis lauter
Deleila Piasko
shewelij, jugendlicher, erzieher, filmregisseur, paul schikora
kommissarin, jugendliche, erzieherin, nachrichtensprecherin, christa wolf, mutter von andreas richter
owtscharenko, jugendlicher, erzieher, kurt hager, eberhard mannschatz, direktor
makarenko, jugendlicher, erzieher, horst kretschmar, nachrichtensprecher, horst schumann, heimleiter, bernhard bueb
Jugendliche
Inge Ackermann, Yuna Anders, Tom Arnold, Eduard Bär, Emely Beck, Fritz Bergert, Ireen Bernhard, Lennart Brümmer, Fynn R. Drechsler, Friederike Feldmann, Vanessa Frenzel, Tabea Günther, Clara Haines, Lissy Jacobs, Dominic Jarmer, Clara Koschine, Wieland König, Miriam Kaden, Leticia Klose, Georg Kurze, Dorothee Linßner, Liselotte Maune, Vincent Melzer, Sarah Muschalek, Clemens Müller, Eric Netzschwitz, Ronja Oehler, Elias Ose, Sara Paulisch, Philipp Rahn, Franz Rölz, Jannis Roth, Kim-Elia Samaga, Sophie Scholta, Elisabeth Helene Sperfeld, Leonore Sperfeld, Marek Anton Stein, Anton Stock, Melissa Stock, Theresa Tippmann, Maxima Walthes, Fee Weber, Arthur Leo Weinhold, Maria Winkler
Austellung
Fotoausstellung „Vergangenheit bewältigen. Heimkinder in der DDR“
Eine Kooperation der Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden mit der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau
Die Ausstellung ist vom 10. Januar bis 1. April 2018, täglich 10.00 bis 18.00 Uhr, in der Gedenkstätte Bautzner Straße zu sehen.
www.bautzner-strasse-dresden.de
www.heimkinder-der-ddr.de
Eine Kooperation der Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden mit der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau
Die Ausstellung ist vom 10. Januar bis 1. April 2018, täglich 10.00 bis 18.00 Uhr, in der Gedenkstätte Bautzner Straße zu sehen.
www.bautzner-strasse-dresden.de
www.heimkinder-der-ddr.de
Was man ansonsten aus Interviews, Briefen und Dokumenten herausfand, ist tief deprimierend.
Eine Szene, die man ‚Ballett der Schlagstöcke‘ nennen könnte, unterlegt FM Einheit, der für die Musik zuständig ist, mit der Deep Purple-Nummer ‚Child in Time‘ und langt auch ansonsten kräftig hin, lässt
Die Musik zum Komplizen werden, um die Wucht der Erniedrigungen und Misshandlungen zu unterstreichen. Auch die Arbeit von Volker Lösch hat etwas Schonungsloses und ist beeindruckend konsequent. ‚Der Weg ins Leben‘ ist ein richtig großer Brocken Theater.“
Politisch, radikal, aufklärend, kraftvoll, bildgewaltig. So ist Volker Löschs Theater. Er legt den Finger in die Wunden einer Gesellschaft. Sein Markenzeichen ist die Arbeit mit Bürgerchören. In der antiken Tragödie fungierte der Chor als Stimme des Volkes. An diese Tradition knüpft Lösch an.
Die Dresdner Fassung von Volker Lösch und Jörg Bochow, Chefdramaturg des Staatsschauspiels, verwendet SED-Dokumente, Texte von Makarenko, vor allem aber Berichte von Opfern. Um Konzept und Praxis des Erziehungsmodells zu verstehen, sprach das Theaterteam mit 30 Zeitzeugen. Erzieher aus den Jugendwerkhöfen waren nicht für Interviews zu gewinnen, ‚wir haben deshalb auf ihre Schriften zurückgegriffen‘, so Bochow im Programmheft. Das bedrückende Ergebnis der umfangreichen Recherche ist nun im düsteren, von Holzlamellen eingefassten Bühnenbild Cary Gaylers zu besichtigen.
44 Jugendliche bilden den Chor der Geknechteten und Gedemütigten. Eine famose, vor allem physische Leistung. Gleiches gilt für die zehn Schauspieler des Ensembles. Alle Darsteller spielen mehrere Figuren. Hervorzuheben sind Nadja Stübiger und Viktor Tremmel. Ansonsten sind die Erzieher durchweg Scheusale und Schlagetots. Differenzierung ist in dieser Inszenierung ein Fremdwort. Von Lösch so gewollt. Er will Tribunal sein.
Fünf ehemalige Torgau-Häftlinge, im Alter zwischen 50 und 70, berichten von erlittenen Qualen. Leise im Ton, nachdrücklich in der Aussage. Stefan Lauter: ‚Die Einzelhaft war das Schlimmste.‘ Anette Gebel-Kozian: ‚Ich hab gedacht, hier kommst du nie wieder raus, hier wirst du sterben.‘ Andreas Richter: ‚Es gab unter uns das Gesetz des Stärkeren. Wenn du dich nicht wehrst, wirst du immer mehr verdroschen. Und da hab ich eben mitgedroschen.‘ Ilona Enskat: ‚Haare ab, nackt ausgezogen, kontrolliert, alle Körperöffnungen, die es gab.‘ Detlev Sadrinna: ‚Es gab nur eine Gangart, das war der Laufschritt, und eine Redensart, das war Brüllen.‘“
Eine intensive Ensembleleistung macht das perverse System des Missbrauchs erfahrbar. Das ist bewegend, niederschmetternd, mitunter schwer erträglich. Kein leichter Abend. Er zeigt aber die immense gesellschaftliche Relevanz von Theater – und wie brutal es sein kann. Brutal gut auch.“
Volker Lösch ist in seinem Element, die Massenszenen erinnern an die Ästhetik der frühen Sowjetfilme, der große Jugendchor bewegt sich und spricht leidenschaftlicher und dennoch disziplinierter als je zuvor. Mitreißend.
Auf erschütternde Weise berichten fünf Zeitzeugen über ihre üblen Erfahrungen. Der hölzerne Kubus mit verschließbaren Lamellenwänden, den Cary Gayler auf die Bühne gebaut hat, wirkt nun erst recht wie ein Knast. Es geht zu wie im KZ, fürchterliche Dinge geschehen. Der militärische Drill, die Einzel- und Kollektivstrafen werden wiederum chorisch und körperintensiv zelebriert.
Das geht wirklich unter die Haut.“
Das Theater-Experiment funktioniert, es entsteht ein dicht choreografiertes Tableau von Dokument und Fiktion. Geschichte wird so zu etwas, in dessen Darstellung sich der Zuschauer sofort einmischen will, nicht rechthaberisch fremde Erfahrungen durchstreichen, sondern eigene hinzufügend.
Lösch beweist hier seine Fähigkeit, das Chorische mit dem Einzelnen so zu verbinden, dass eine ungeheure – sowohl gedankliche als auch darstellerische – Intensität entsteht. Zahlreiche junge Schauspieler des Ensembles sind dabei in der ersten Inszenierung ihres Erstengagements zu erleben, in aller vagen Frische des Anfangs, die eine sichere Form erst noch sucht. Einige von ihnen versprechen bereits jetzt viel, so Luise Aschenbrenner (Jahrgang 1995), die als Werkhofinsassin einen furiosen Monolog über die Fatalität von Schnürsenkeln hält, der an die Ausweglosigkeit von Heiner Müllers ‚Mann im Fahrstuhl‘ denken lässt. Welch Perfidie doch im kommunistischen Weltbild lag: Verkultung der Arbeit und zugleich Arbeit als Strafe! Die Inszenierung benennt pointiert das darin liegende Paradox.“
Die Inszenierung verbindet schmissiges Massentheater, Schauspieler-Bilder der frontalen Ansprache und aufwühlende Erzählpassagen.
Dies nämlich steigert sich zum bedrängenden Kern der Aufführung: Fünf einstige Insassen des Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau erzählen ihr Schicksal. Ilona Enskat, Anette Gebel-Kozian, Stefan Lauter, Andreas Richter, Detlev Sadrinna. Sie erzählen bewusst gemäßigt, sachlich – als solle der Schauder einer Distanz versucht werden, die es aber nicht wirklich geben kann. Denn da schuf ein Staat unglückliche Menschen, sperrte sie ins Gesellschaftsverhängnis. Wir erfahren mürbende Odysseen durch Heime (‚Ich hatte eine schweinische Sehnsucht nach einer richtigen Schule‘), und in Torgau regiert die brutale Praxis der Erzieher. Ein Chor trägt die ‚Belehrung über die Anwendung von Schlagstöcken‘ von 1964 vor: ‚… dabei ist der Schlag nur in die Weichteile des Gegners zu schlagen.‘ Das empfindlichste Weichteil ist die Seele. Die Folgen von Torgau: Angst vor geschlossenen Türen, kleinen Räumen, gedämpftem Licht; ein stolperndes Sozialleben zwischen Fließband und Arbeitsamt; Vergessenwollen und Nichtvergessenkönnen. Einer der Zeitzeugen konnte lange nur in dritter Person von sich erzählen, ‚anders hätte ich das nicht ertragen‘.
Es muss ein schreiendes Bedürfnis nach Gespräch und Gehör sein, das den Opfern diesen Mut zur Öffentlichkeit gab. Denn es ist erschütternd, was sie so böse ins Leben stieß und was sie nun von sich preisgeben: Keine Liebe, keine Herzensbildung, zerrüttete Familien, psychische Probleme (‚Ich war nie ein Normalkind‘). Vom seelenlosen Offiziersvater bis zur sexsüchtigen Mutter, vom Schulschwänzen bis zur brutalen Unbeherrschtheit (‚Wenn schon Liebe, dann konnte ich die nur immer umsetzen in Gewalt‘), die Verwahrlosung schließlich als Not, aber auch einzige Freiheit – so viele unglückliche Faktoren, die eine staatliche Fürsorge zwingend wie wünschenswert machten. Und dann: der vermeintliche Weg ins Leben als fortwährende Strafexpedition.
Da sitzen diese ‚Torgrauer‘, schauen ins Publikum, als wollten sie sagen: Träume sind schöner als ein Trauma. Denn Träume verbinden, ein Trauma aber bindet Atemzüge zu und macht einsam. Diese Zeugen wirken, als wollten sie einen Besitz nicht hergeben, die Angst.“