Premiere 24.02.2018
› Schauspielhaus
Der gute Mensch von Sezuan
Handlung
Die Götter sind beunruhigt. Von der Erde erreicht sie die Nachricht, dass es auf dieser keine guten Menschen gibt: Sind da womöglich bei der Schöpfung eklatante Fehler gemacht worden? Anlass genug jedenfalls für die Götter, sich selbst ein Bild zu machen. In Sezuan treffen sie auf die mittellose Prostituierte Shen Te, die ihnen als Einzige Obdach gewährt. Die gute Tat bleibt nicht unbelohnt: Vom göttlichen Mikrokredit kauft sie sich einen Tabakladen. Ihre Gastfreundschaft und ihr bescheidener Wohlstand werden jedoch von ihrer Kundschaft schamlos ausgenutzt. Unglücklich über die Ausbeutung, die ihr widerfährt, weiß sich Shen Te nicht anders zu helfen und erfindet den skrupellosen Vetter Shui Ta als kapitalistisches Alter Ego. Bald schon prosperiert der kleine Tabakladen und wird zum ausbeuterischen Tabakimperium. Für Shen Te jedoch beginnt ein Hürdenlauf: Ist es möglich, gut zu sein und doch zu leben? Wie kann ein Mensch im Angesicht von Armut, Konkurrenz und Unterdrückung dennoch das Gute bewahren? Brecht selbst verweigert in seiner Fabel über das Gute im Menschen jede Antwort: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss.“
Dauer der Aufführung: 2 Stunden.
Keine Pause.
Keine Pause.
Besetzung
Regie
Nora Schlocker
Bühne
Jessica Rockstroh
Kostüme
Caroline Rössle Harper
Komposition und Arrangement
Benedikt Schiefer
Chorleitung
Anne Horenburg
Musikalische Einstudierung
Licht
Dramaturgie
Shen Te / Shui Ta
Yang Sun, ein stellungsloser Flieger
Wang, ein Wasserverkäufer
Thien Phuoc Nguyen
Wang, ein Wasserverkäufer alternierend
Die Witwe Shin
Die Hausbesitzerin Mi Tzü
Der Mann / Der Barbier Shu Fu
Der Mann / Der Barbier Shu Fu alternierend
Die Frau
Der Neffe
Malte Homfeldt
Der Neffe alternierend
Lucas Lentes
Die Schwägerin
Der Arbeitslose / Der Schreiner Lin To / Polizist
Das Kind
Eva Lotta Wuttke
Das Kind alternierend
Darya Zaretskaya
Der Großvater
Hansruedi Humm
Die Götter
Kammerchor Pesterwitz
Die Männer, die Frauen. Was für ein Ensemble!“
Sie beherrscht die Szene von Anfang an. Mit jeder Faser, möchte man sagen. Sie ist überzeugend im Leiden an ihrem Leben als Prostituierte, und ebenso schlagend ist ihre Naivität gegenüber denen, die sie ausnutzen, als sie zu Geld gekommen ist. Sie ist pathologisch hilfsbereit und dabei viel zerbrechlicher als es den Anschein hat.
Kaum aber fällt man darauf rein und lässt den eigenen Helfergenen Raum, hilft sie sich selbst. Wie sie sich im Männerkörper des Vetters probiert, erst schüchtern, bald aber schon kleine Kraftmeiereien übend, die Schultern leger nach vorne, mit den Händen die Hosentaschen weit ausbeulend, kerlecool mit Frauenpower – das alleine wäre schon den Abend wert.
Einen Abend, der ohne viel technisches Chichi auskommt. Na gut, ein bisschen Nebel, ab und an. Sonst herrschen Ruhe und Konzentration. Der Kammerchor Pesterwitz füllt kraftvoll aus dem zweiten Rang mit Dessaus Musik den Saal und gibt zudem verschiedene Geräusche. Regen zum Beispiel – leichtes Klatschen. Verblüffend. So etwas kann nur das Theater. Ein weiterer Vorteil der in Dresden gespielten Fassung mit der Musik von Paul Dessau ist, dass zwischen den Songs keine Musik ist. Keine künstliche ‚Atmo‘, kein Soundtrack. Sondern eben Ruhe. Diese Schauspielruhe, die so leicht gestelzte Langeweile werden kann und stattdessen einfach Spannung bleibt.
Einfach? Natürlich nicht. Sie halten diese Spannung: Sven Hönig in diversen Rollen, Matthias Reichwald als verzweifelter und (deshalb?) zugleich fieser Flieger Yang Sun, der junge Anton Petzold als Wasserverkäufer. Die Männer, die Frauen. Was für ein Ensemble!
Die Bühne von Jessica Rockstroh ist noch so etwas, das einfach wirkt: eine leere, polierte Metallplattform. Hinten angehoben, wird sie zur schiefen Bahn, die erklommen werden will. Wer oben ist, kann hinten runterfallen. Oder zurückrutschen nach vorne. Oben und unten. Aufstieg und Fall. Alles hat zwei Seiten. Mehr muss nicht. Für den Schluss, den Brecht ihm abverlangt, hat sich das Publikum zu euphorischem Applaus entschieden.“
Dezent und mit ruhiger Hand setzt Regisseurin Nora Schlocker in ihrer ersten Arbeit am Staatsschauspiel Dresden solche Bilder. Fast poetisch webt sie Brechts Verfremdungstricks dazwischen. Musik von Paul Dessau spielt dabei eine der Hauptrollen. Anstelle der drei Götter im Stück steht der Kammerchor Pesterwitz im zweiten Rang. Und singt den Text über den Köpfen des Publikums. Oder er imitiert virtuos vermeintliche Regengeräusche. Diese klangvollen Arrangements von Benedikt Schiefer sind echte Farbtupfer des Abends.
Souverän wandelt sich Betty Freudenberg in Shui Ta: Breitbeinig, Fäuste in den Hosentaschen und den schwarzen Hut tief im Gesicht. Die Raubeinigkeit überzeugt, das unbarmherzige Befehlen funktioniert. Erst als die Götter schon gegangen sind, hat Freudenberg auch mit Haut und Haaren zur moralischen Shen Te gefunden. Eindringlich fordert sie: ‚Sucht euch selbst den Schluss, es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!‘ Hier ist ein Happy End in weiter Ferne.“
Ein ausgesucht besetztes Ensemble kann sich eindrucksvoll zur Schau stellen.
Die aus Rumänien stammende Gina Calinoiu spricht sehr betont mit einem breiten Akzent, bewegt sich etwas exaltiert puppenhaft, aber sehr präzise und gewinnt damit an Präsenz. Sie lässt das Ganze schließlich als eine Art Marionettenspiel mit Puppen aus unterschiedlichen Garnituren erscheinen und nicht nur als zufälliges Zusammentreffen von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund.
Betty Freudenberg und Matthias Reichwald gewinnen der für das Tragische eigentlich viel zu banalen Geschichte zwischen den beiden sehr viel Berührendes ab, nicht zuletzt, weil sie sich als Nicht-Kunstfiguren begegnen.“
Brechts Parabel braucht keinen Fingerzeig auf die Gegenwart. Sie funktioniert auch so und vor allem mit einem hervorragenden Ensemble, wie es in Dresden auf der Bühne steht. Allen voran Betty Freudenberg, die als Prostituierte und spätere Tabakwarenhändlerin Shen Te genauso überzeugt wie in der Hosenrolle als Shiu Ta. Von ihren Freunden ‚Engel der Vorstadt‘ genannt, wird ihre Gutmütigkeit schamlos ausgenutzt. Betty Freudenberg nimmt man die Zerrissenheit zwischen dem Helfen-Wollen und dem Nicht-mehr-helfen-Können ab. Selbst als sie einen lebensmüden Flieger (Matthias Reichwald) vor dem Selbstmord bewahrt, kann sie keine Dankbarkeit erwarten. Sie hilft trotzdem – bis sie an ihre Grenzen kommt, und als sie am Ende scheint, hilft sie sich selbst und verwandelt sich in ihren Vetter Shiu Ta. Und wie sie das tut – einfach genial. Auf offener Bühne schlüpft sie in Hemd, Hose und Jackett, zieht sich einen Hut in die Stirn. Anfangs noch zögerlich mit hängenden Schultern richtet sie sich immer mehr zum skrupellosen Antihelden auf. Wenn sie wie Charlie Chaplin mit den Händen die Hosentaschen ausbeult, gerät ihr langsamer Wandel zu einer köstlichen Slapstick-Nummer. Aber das gibt ihr Kraft, den inneren Kampf zu überstehen. Schließlich rechnet sie mit denen ab, die sie ausgenutzt haben. Auch mit dem Flieger, der zum Junkie wird und von dem sie ein Kind erwartet. Matthias Reichwald spielt dessen Absturz mit einer solchen Inbrunst, dass man fast Mitleid mit ihm bekommen könnte, als er sarkastisch anstimmt: ‚Am Sankt Nimmerleinstag wird die Erde zum Paradies.‘
Weder für ihn noch für die anderen Akteure braucht es technische Raffinessen auf der Bühne. Die immer mal wieder aufwallenden Wolken mögen zwar die Götter ankündigen, die den guten Menschen suchen - aber sie sind verzichtbar. Denn dafür gibt es den hervorragend aufgestellten Kammerchor Pesterwitz. Die Damen und Herren agieren vom zweiten Rang mit Paul Dessaus Musik als Götter, sorgen für Geräusche und haben dabei eine solche fordernde Aussprache, mal laut, mal zischelnd, dass es einem im Parkett erschaudern lässt. Für die Bühne (Jessica Rockstroh) selbst reicht ein Metalldach, deren Teile wie Sonnenkollektoren wirken, die die Wärme aber nicht halten können. Denn das Dach bewegt sich, wenn Menschen herabstürzen oder sanft in die Realität zurückgleiten.“
Herausragend ist Betty Freudenberg in der Hauptrolle als Shen Te und Shui Ta. Die erste Transformation in den erfundenen Vetter erfolgt unspektakulär, aber pointiert. Betty Freudenberg verleiht dem öffentlichen Kostümwechsel die angemessene Aura der Verzweiflung. Freiwillig hätte sich Shen Te zu so einer Posse wohl nicht hinreißen lassen. Doch um den Bittstellern Herr zu werden, die nach einem göttlichen Geldgeschenk wie die Fliegen um sie herumschwirren, erfindet sie ihr ausbeuterisches Alter Ego. Ein guter Mensch ist dieser Shui Ta keineswegs. Er macht Karriere, geht über die sprichwörtlichen Leichen und hält gute Beziehungen zu Höhergestellten. Er nutzt das bestehende System restlos für sich aus. Der arbeitslose Flieger Yang Sun hingegen, herzergreifend dargestellt von Matthias Reichwald, zerbricht an diesem System. Es ist eine Freude, den beiden Hauptdarstellern in ihren gemeinsamen Bildern zuzuschauen.
Ein Geldhagel aus dem Nichts, ein Kanister voll Wein, ein paar Waschsäcke und ein Seil: Mehr braucht es nicht, um eine entsprechende Wirkung beim Publikum zu erzielen. Schließlich sind die Fragen, die im Stück gestellt werden, elementar. Sie gehen alle Menschen an. Da ist es nur folgerichtig, auf Schnörkel zu verzichten.“