Uraufführung 10.06.2011 in Recklinghausen /
Dresdner Premiere 17.09.2011 › Kleines Haus 2
Dresdner Premiere 17.09.2011 › Kleines Haus 2
Alles Opfer! oder Grenzenlose Heiterkeit
von Dirk Laucke
Eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen
Eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen
Handlung
Ein Reisebus ist unterwegs nach Schlesien. Die Passagiere lassen sich von deutschen Hits aus dem Radio berieseln, während sie auf den Live-Auftritt des Ex-DDR-Schlagersternchens Marie Wagner warten, die ebenfalls mitfährt. In der Dämmerung zieht die Landschaft vorbei, als plötzlich der Fahrer die Kontrolle verliert – der Bus bricht durch die Leitplanke, stürzt einen Abhang hinab und fällt buchstäblich aus der Zeit.
Alle sind tot, bis auf fünf halbwegs Unversehrte, die bald feststellen müssen, dass ihnen keiner zu Hilfe kommt. Unmittelbar neben den Toten in den Trümmern des Busses muss man sich arrangieren. Da sind die Sängerin Marie und ihr Vater und Manager Lennert. Die Rentnerin Martha, die ihren Mann immer in einer Urne bei sich trägt. Die Biologin Toni, die einmal über Grottenolme geforscht hat, und der junge Journalist Torsten, der glaubt, auf alles eine Antwort zu haben. Nach und nach wird deutlich, dass sie alle mehr miteinander verbindet, als ihnen lieb ist. Inmitten dieser Zwischenwelt des deutschen Waldes erwachen die Wiedergänger der deutschen Geschichte unter ihnen zu neuem Leben und hetzen die fünf Übriggebliebenen aufeinander.
Wie alle Stücke von Dirk Laucke ist auch dieses eine Analyse der deutschen Gegenwart und ihrem Umgang mit den Gespenstern der Geschichte. Lauckes Figuren sind heutig und lebensnah, ihre Authentizität speist sich aus zahlreichen Interviews und Recherchereisen des Autors quer durch die Republik. Lauckes Dresdner Uraufführung FÜR ALLE REICHT ES NICHT wurde zu den renommierten Mülheimer Theatertagen eingeladen. Seine Uraufführung ALLES OPFER! ist eine Koproduktion des Staatsschauspiels Dresden mit den Ruhrfestspielen in Recklinghausen.
Alle sind tot, bis auf fünf halbwegs Unversehrte, die bald feststellen müssen, dass ihnen keiner zu Hilfe kommt. Unmittelbar neben den Toten in den Trümmern des Busses muss man sich arrangieren. Da sind die Sängerin Marie und ihr Vater und Manager Lennert. Die Rentnerin Martha, die ihren Mann immer in einer Urne bei sich trägt. Die Biologin Toni, die einmal über Grottenolme geforscht hat, und der junge Journalist Torsten, der glaubt, auf alles eine Antwort zu haben. Nach und nach wird deutlich, dass sie alle mehr miteinander verbindet, als ihnen lieb ist. Inmitten dieser Zwischenwelt des deutschen Waldes erwachen die Wiedergänger der deutschen Geschichte unter ihnen zu neuem Leben und hetzen die fünf Übriggebliebenen aufeinander.
Wie alle Stücke von Dirk Laucke ist auch dieses eine Analyse der deutschen Gegenwart und ihrem Umgang mit den Gespenstern der Geschichte. Lauckes Figuren sind heutig und lebensnah, ihre Authentizität speist sich aus zahlreichen Interviews und Recherchereisen des Autors quer durch die Republik. Lauckes Dresdner Uraufführung FÜR ALLE REICHT ES NICHT wurde zu den renommierten Mülheimer Theatertagen eingeladen. Seine Uraufführung ALLES OPFER! ist eine Koproduktion des Staatsschauspiels Dresden mit den Ruhrfestspielen in Recklinghausen.
Besetzung
Regie
Bühne
Jeremias Böttcher
Kostüme
Irène Favre de Lucascaz
Musik
Dramaturgie
Beret Evensen
Licht
Marie, Sängerin
Picco von Groote
Lennert, Vater und Manager, Ex-IM
Antonina, Grottenolmforscherin, Stasi-Opfer
Torsten, Journalist
Sascha Göpel
Martha, „Sudetendeutsche“
Helga Werner
Video
Pressestimmen
Ein Reisebericht von Dirk Laucke
Bericht des Autors Dirk Laucke, der für das Staatstheater Dresden ein allgemeines Stück schreiben will, am 13. Februar 2011 zum Dresdner Heidefriedhof fährt und von der lokalen Notwendigkeit überzeugt wird, ein Stück speziell für Dresden zu schreiben.
„Die Haltestelle Hauptbahnhof ist nicht mehr anzufahren“, ertönt eine erstaunlich radiotaugliche Stimme aus den Bordlautsprechern des Busses. „Dort ist schon alles abgesperrt. Sie haben also die Möglichkeit, Bahnhof Neustadt auszusteigen bzw. nachher in der Ammonstraße, wo sich die Ersatzhaltestelle befindet. Das ist auf jeden Fall fußläufig näher zum Hauptbahnhof. Tja, und dann werden wir jetzt erfahrungsgemäß noch so ein bis zwei Polizeikontrollen haben. Aus diesem Grunde darf ich Sie schon mal bitten, die Ausweise bzw. Pässe bereitzuhalten. Danke schön.“
„Ich hab das Pfefferspray mit“, wende ich mich an meinen Mitreisenden Thomas Zaunmüller. „Soll ich das hier schnell wegwerfen oder was? Nee, oder? Die kontrollieren doch nicht die Sachen … “
„Keine Ahnung … Warum hast du das überhaupt mitgebracht?“
Mir fällt ein, dass das Pfefferspray ja eigentlich nur für Plan B gedacht war. Plan A heißt: Der Linienbus fährt uns vom ZOB Berlin über die A13 vorbei am Spreewald nach Dresden Neustadt. Plan B sieht so aus: Falls wir aus unvorhersehbaren Gründen den Linienbus nach Dresden um 7 Uhr 45 verpassen sollten, müssten wir mit der Regionalbahn fahren. Und Regionalbahn hieße: Erst über brandenburgische, dann über sächsische Käffer, in jedem steigt ein Trupp frustrierter Nazis ein … Die angekündigten Polizeikontrollen stecken lediglich den Kopf durch die Tür: Sinn und Zweck der Reise? Der Fahrer bekennt: „Regulärer Linienbus“, und weiter gehts. Am Bahnhof Neustadt spülen wir Maxibecher Ekelkaffee runter und wundern uns über die viel beschworene und tatsächlich eingehaltene Friedfertigkeit und Gastfreundschaft der Einwohner: Ein paar alternative Jugendliche stehen im Bahnhofsgebäude herum, drehen Zigaretten und herzen die stetig eintreffenden Neuankömmlinge. Das Herzen und friedlich Rumstehen hört nicht mal auf, als drei Neonazis an ihnen vorbei in eine wahrscheinlich noch verhasstere Bürgerkette marschieren. Zwei sächsische Beamte halten die Nazis auf und kontrollieren die Papiere. 1:0 für die Beamten.
Wir fahren mit der Tram Richtung „Wilder Mann“, ich halte das Pfefferspray die ganze Zeit in der Hand, außer beim Vorgang des Zusätzliches-Paar-Socken-Anziehens, denn bisher habe ich verschwiegen: In Berlin war es kalt, in Dresden fällt und fällt der Schnee. Von gestern. Ich werde das Pfefferspray aus Plan B hinter einem sich gabelnden Baum in der Nähe eines Stromkastens los. – Lässt sich gut für den Rückweg merken (unreifer Plan C).
Vor dem Heidefriedhof: Polizeifahrzeuge. Auf der anderen Straßenseite ein kleines Trüppchen Antifa, am Eingang des Friedhofs kontrollieren Einsatzpolizisten den Tascheninhalt. Zaunmüller und ich geraten zufällig zwischen zwei gut gelaunte Grüppchen Thor-Steinar-bejackter junger Männer und weniger Frauen. Wir lassen einen Blick in unsere Taschen werfen und watscheln zwischen den beiden Grüppchen den Kiesweg des Friedhofs entlang.
Kurzer Exkurs: Thor Steinar – Bekleidungsmarke. Anders als die Marken „Lonsdale“ oder „Fred Perry“ wird die betont freizeitmäßige Mode von Thor Steinar nicht nur gern von Neonazis getragen, die Betreiber selbst dürfte man, aufgrund der Vielzahl erstatteter Anzeigen sowie von Kontakten zur und Unterstützung der rechtsextremen Szene, derselben zurechnen. Der Witz: Im Wesentlichen bezieht die Marke Thor Steinar ihre Attraktivität aus Codes und Zeichen, die am Rande zur NS-Verherrlichung stehen. Beispiel: T-Shirt mit der Abbildung des Säugetieres Fennek, auch genannt „Wüstenfuchs“, was die Aufschrift unter der Abbildung untermauert. Verweis auf Generalfeldmarschall Rommel, Erwin (1891 – 1944), dessen Einsatz im sogenannten „Afrikafeldzug“ ihm den Beinamen „Wüstenfuchs“ eintrug. Ganz schön ausgefuchst! Warum schaffen es Fußballverbände, Personen mit dieser Kleidungsmarke nicht ins Stadion zu lassen, und die Stadt versagt bei historischen Friedhöfen? Ende des Exkurses.
Bevor wir auf dem Kiesweg des „Ehrenhains“ zur Gedenkveranstaltung gelangen, zum Mahnmal, lässt uns die landschaftsbauliche Anordnung des Heidefriedhofs zunächst zwei Nebenmahnmale passieren. Das erste, linker Hand, ist die neueste Schöpfung der Dresdner Bombennacht-Gedenkkultur, es trägt den prosaischen Titel „Trauerndes Mädchen am Tränenteich“ und stellt ein kleines goldenes Mädchen (gibt es ein altmodischeres Bild für Unschuld?) dar. Das zweite führt uns durch das „Rondell im Ehrenhain“, eine Art Stelenkreis, in dem rechter Hand die Stelen mit den Namen einiger großer Konzentrationslager beschriftet sind, auf der linken Seite stehen die Namen bombardierter Städte wie Coventry, Leningrad, Warschau und, das darf natürlich nicht fehlen, Dresden. Zwei, drei Leute vom Verband der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) stehen vor der Stele Dresden, halten ein Transparent und sind gerade in einen lauten Streit mit einem Vertreter der NPD verwickelt. Journalistisch ist hier nichts zu holen. Außerdem fängt die Veranstaltung an: Bundeswehrsoldaten stehen stramm, einen Kranz zur Niederlage, äh -legung bereit, vor der Sandsteinmauer mit der Inschrift: „Wie viele starben? Wer kennt die Zahl? // An Deinen Wunden sieht man die Qual // Der Namenlosen, die hier verbrannt // Im Höllenfeuer aus Menschenhand. – Dem Gedenken der Opfer des Luftangriffs auf Dresden am 13. – 14. Febr. 1945.“
„Ich hab das Pfefferspray mit“, wende ich mich an meinen Mitreisenden Thomas Zaunmüller. „Soll ich das hier schnell wegwerfen oder was? Nee, oder? Die kontrollieren doch nicht die Sachen … “
„Keine Ahnung … Warum hast du das überhaupt mitgebracht?“
Mir fällt ein, dass das Pfefferspray ja eigentlich nur für Plan B gedacht war. Plan A heißt: Der Linienbus fährt uns vom ZOB Berlin über die A13 vorbei am Spreewald nach Dresden Neustadt. Plan B sieht so aus: Falls wir aus unvorhersehbaren Gründen den Linienbus nach Dresden um 7 Uhr 45 verpassen sollten, müssten wir mit der Regionalbahn fahren. Und Regionalbahn hieße: Erst über brandenburgische, dann über sächsische Käffer, in jedem steigt ein Trupp frustrierter Nazis ein … Die angekündigten Polizeikontrollen stecken lediglich den Kopf durch die Tür: Sinn und Zweck der Reise? Der Fahrer bekennt: „Regulärer Linienbus“, und weiter gehts. Am Bahnhof Neustadt spülen wir Maxibecher Ekelkaffee runter und wundern uns über die viel beschworene und tatsächlich eingehaltene Friedfertigkeit und Gastfreundschaft der Einwohner: Ein paar alternative Jugendliche stehen im Bahnhofsgebäude herum, drehen Zigaretten und herzen die stetig eintreffenden Neuankömmlinge. Das Herzen und friedlich Rumstehen hört nicht mal auf, als drei Neonazis an ihnen vorbei in eine wahrscheinlich noch verhasstere Bürgerkette marschieren. Zwei sächsische Beamte halten die Nazis auf und kontrollieren die Papiere. 1:0 für die Beamten.
Wir fahren mit der Tram Richtung „Wilder Mann“, ich halte das Pfefferspray die ganze Zeit in der Hand, außer beim Vorgang des Zusätzliches-Paar-Socken-Anziehens, denn bisher habe ich verschwiegen: In Berlin war es kalt, in Dresden fällt und fällt der Schnee. Von gestern. Ich werde das Pfefferspray aus Plan B hinter einem sich gabelnden Baum in der Nähe eines Stromkastens los. – Lässt sich gut für den Rückweg merken (unreifer Plan C).
Vor dem Heidefriedhof: Polizeifahrzeuge. Auf der anderen Straßenseite ein kleines Trüppchen Antifa, am Eingang des Friedhofs kontrollieren Einsatzpolizisten den Tascheninhalt. Zaunmüller und ich geraten zufällig zwischen zwei gut gelaunte Grüppchen Thor-Steinar-bejackter junger Männer und weniger Frauen. Wir lassen einen Blick in unsere Taschen werfen und watscheln zwischen den beiden Grüppchen den Kiesweg des Friedhofs entlang.
Kurzer Exkurs: Thor Steinar – Bekleidungsmarke. Anders als die Marken „Lonsdale“ oder „Fred Perry“ wird die betont freizeitmäßige Mode von Thor Steinar nicht nur gern von Neonazis getragen, die Betreiber selbst dürfte man, aufgrund der Vielzahl erstatteter Anzeigen sowie von Kontakten zur und Unterstützung der rechtsextremen Szene, derselben zurechnen. Der Witz: Im Wesentlichen bezieht die Marke Thor Steinar ihre Attraktivität aus Codes und Zeichen, die am Rande zur NS-Verherrlichung stehen. Beispiel: T-Shirt mit der Abbildung des Säugetieres Fennek, auch genannt „Wüstenfuchs“, was die Aufschrift unter der Abbildung untermauert. Verweis auf Generalfeldmarschall Rommel, Erwin (1891 – 1944), dessen Einsatz im sogenannten „Afrikafeldzug“ ihm den Beinamen „Wüstenfuchs“ eintrug. Ganz schön ausgefuchst! Warum schaffen es Fußballverbände, Personen mit dieser Kleidungsmarke nicht ins Stadion zu lassen, und die Stadt versagt bei historischen Friedhöfen? Ende des Exkurses.
Bevor wir auf dem Kiesweg des „Ehrenhains“ zur Gedenkveranstaltung gelangen, zum Mahnmal, lässt uns die landschaftsbauliche Anordnung des Heidefriedhofs zunächst zwei Nebenmahnmale passieren. Das erste, linker Hand, ist die neueste Schöpfung der Dresdner Bombennacht-Gedenkkultur, es trägt den prosaischen Titel „Trauerndes Mädchen am Tränenteich“ und stellt ein kleines goldenes Mädchen (gibt es ein altmodischeres Bild für Unschuld?) dar. Das zweite führt uns durch das „Rondell im Ehrenhain“, eine Art Stelenkreis, in dem rechter Hand die Stelen mit den Namen einiger großer Konzentrationslager beschriftet sind, auf der linken Seite stehen die Namen bombardierter Städte wie Coventry, Leningrad, Warschau und, das darf natürlich nicht fehlen, Dresden. Zwei, drei Leute vom Verband der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) stehen vor der Stele Dresden, halten ein Transparent und sind gerade in einen lauten Streit mit einem Vertreter der NPD verwickelt. Journalistisch ist hier nichts zu holen. Außerdem fängt die Veranstaltung an: Bundeswehrsoldaten stehen stramm, einen Kranz zur Niederlage, äh -legung bereit, vor der Sandsteinmauer mit der Inschrift: „Wie viele starben? Wer kennt die Zahl? // An Deinen Wunden sieht man die Qual // Der Namenlosen, die hier verbrannt // Im Höllenfeuer aus Menschenhand. – Dem Gedenken der Opfer des Luftangriffs auf Dresden am 13. – 14. Febr. 1945.“
Hier stehen wir nun, vor uns das Massengrab, links die Presse, rechts die sächsische Politprominenz – unter anderem der Ministerpräsident und der Dresdner Ordnungsbürgermeister, der am Mikro steht … Ach ja, und die rund 100 Neonazis, die aufmerksam lauschen, während der Dresdner Zweite Bürgermeister spricht: „Niemand muss uns darüber belehren.“ Die Nazis heben die Köpfe. „In diesen Stunden vor 66 Jahren trieb die Gestapo die wenigen überlebenden Dresdner Juden zusammen, um sie in ein Vernichtungslager zu transportieren.“ Wieder nichts, mögen die einen Kameraden gedacht haben, für die anderen blieb: dass uns niemand, aber absolut niemand über die deutsche Geschichte belehren muss – erst recht nicht diese linken Zecken, denn da sind sie wieder … Ein paar Meter entfernt stehen 10 bis 15 Antifas mit einem Transparent und der Parole „Nie wieder Deutschland!“. Die Nazis drehen sich um, bereit zum Angriff, doch die innere Hierarchie der Gruppe sorgt dafür, dass selbst die „sportlich Orientierten“ unter ihnen zwar kurz die Ärmel hochkrempeln, sich aber sonst weisungsgemäß („Jungs, von uns macht keener was!“) zurückhalten. Die Polizei drängelt das Trüppchen Antifa in den Wald, aus dem es wenig später herausschallt: „Oma, Opa und Hans-Peter – keine Opfer, sondern Täter!“ Dann Ruhe. Ich gehe auf den Nazi zu, der seine „Jungs“ zur Räson gebracht hatte: „Was war das jetzt eben von der anderen Seite?“ Seine Antwort könnte deutscher nicht sein: „Gehen Sie bitte! Das is ä Friedhof hier.“ Der Nazi schüttelt den Kopf über die abgeführten Störer, scheint ehrlich betroffen und lässt wahrscheinlich die Rede des Zweiten Bürgermeisters Revue passieren. Ich folge, zumindest im letzten Punkt, seinem Beispiel und rekapituliere einige Worte: „Und das verpflichtet uns, jedem extremistischen Versuch entgegenzutreten, aus dem Schicksal unserer Stadt politisches Kapital zu schlagen.“ Der Nazi nickt versonnene Zustimmung. „Fanatismus, Hassgesänge und dumpfe Losungen schänden das Andenken der Toten.“ Mag der Ordnungsbürgermeister auch noch so sehr die Neonazis gemeint haben – diese wissen, dass nicht sie es waren, die sich hier unmanierlich gebärdet haben. Allerdings frage ich mich, wie ein Politiker es fertigbringt, vor diesem Publikum zu sprechen, warum er nicht den Kopf vom Textblatt hebt und seine eventuelle Hilflosigkeit bekennt: „Ich sollte hier eigentlich eine Rede halten, aber das mache ich prinzipiell nicht vor hundert Neonazis.“ Oder ist es typisch für diese Stadt – und das würde auch das harte Vorgehen mit Wasserwerfern etc. gegen Nazigegner jeglicher Couleur erklären –, stur das Programm durchzuziehen? Am Heidefriedhof jedenfalls sind die Störer ausgemacht und beseitigt. Die Polizeiblaskapelle bläst. Die Soldaten legen die Kränze nieder. Und die Schar Trauernder rottet sich – Bürger in Anzug, Bürger in Jeans, Bürger mit Schärpe, Bürger in Thor Steinar – zum gemeinsamen Volkskörper zusammen.
Eine gute Stunde später stehen wir mitten im Niemals-Falschen, in der goldigen Mitte des „Elbflorenz“, der bürgerlichen Mitte. (Das Pfefferspray aus Plan C wurde zwecks Schutz von Kindern, Kleintieren und anderen Unbefugten in einem dafür geeigneten Behälter entsorgt.) In der „Menschenkette“, die in der Dresdner Innenstadt sowohl der Bombennacht vom 13. Februar gedenkt, werde ich bei der Frage, warum ausgerechnet in Ostdeutschland so viele rechtsradikale Überfälle zu verzeichnen sind, von einem ordentlichen Bürger brüsk als „Demagoge“ demaskiert. Was den angehenden Demagogen natürlich zu noch mehr Unsinn verleitet, etwa der These, die sich sozialwissenschaftlich belegen ließe, dass Fremdenfeindlichkeit gerade dort stattfindet, wo keine Fremden sind. Auf den Punkt gebracht: „Gibt es zu wenige Migranten in Dresden?“ – „Nee, auf gar keinen Fall“, schießt eine Frau mittleren Alters zurück. Die Personen, die ihr links und rechts die Hand zum Beistand halten, bekräftigen: „Ausländer haben wir genug.“ Goldig, und so unextrem, diese Mitte.
Eine halbe Stunde später versucht eine andere Dresdnerin einen Schriftzug zu entziffern, Buchstabe für Buchstabe: „s-h- Was steht da? o-a-h. Shoah.“ Der Schriftzug ist mit Papierbahnen auf dem Boden ausgelegt, Kerzen brennen darauf. Wir stehen vor einem anderen Mahnmal für die Bombennacht, dem vierten heute – der Frauenkirche. „Ist das, ist das Hebräisch?“, fragt, fast dialektfrei, die ordentlich gekleidete Frau: „Wer ist denn hier verantwortlich?“ Wir gehen auf den mutmaßlichen Verantwortlichen für dieses merkwürdige Shoah-Ding zu. Bereitwillig erklärt dieser – und es ist nicht das erste Mal, dass er dies tun muss: „Das ist Hebräisch und bedeutet wortwörtlich ‚Großes Elend‘, als Synonym für den Holocaust, für die Vernichtung der Juden.“ Ich frage die Frau, was sie denkt, warum dieses Wort hier steht. Die Dame zögert ein paar Sekunden, vielleicht ein paar Sekunden zu lang, um sich dann schleunigst mit der Bemerkung „Ich möchte eigentlich keine Stimme abgeben“ vom Acker zu machen. Moment mal, sehe ich aus wie ein Wahl-O-Mat oder was? Woher diese Angst, frage ich mich und sehe plötzlich die Debatte um 13. Februar, Rechte und Linke, Gedenken und Protest in einem anderen Licht – dem von Honnis Lampenpalast. Aus der Äußerung „Ich möchte eigentlich keine Stimme abgeben“ spricht die jahrzehntelange Förderung eines Charakters, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer einmal den autoritären nannten.
In meinem Stück für das Staatsschauspiel Dresden sitzen ein ehemaliges DDR-Schlagersternchen samt Managerpapa, eine „vertriebene“ Oberschlesierin und ein Opfer der SED-Diktatur in einem ähnlichen Bus wie Kollege Zaunmüller und ich, als wir nach Dresden kamen. Der Bus im Stück verunglückt, und die Organisation der Gegenwart lässt sich nicht lösen von einer Vergangenheit, die sich in Biografien eingeschrieben hat und stets aufs Neue alte Muster zutage treten lässt.
Mir fällt noch ein, der Ordnungsbürgermeister hat ausgespart, dass jene Transporte in die Konzentrationslager eben nicht fahren konnten, weil die Luftangriffe stattfanden. Aber darüber muss einen Dresdner doch niemand belehren …
Dirk Laucke wurde 1982 in Schkeuditz, Sachsen, geboren. Er gilt als einer der politischen Theaterautoren seiner Generation und erhielt den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI. Bekannt wurde er mit einem Stück über jugendliche Randfiguren ALTER FORD ESCORT DUNKELBLAU und seinem Theaterprojekt ULTRAS mit radikalen Fußballfans in Halle. 2009 wurde sein Stück FÜR ALLE REICHT ES NICHT am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.
Eine gute Stunde später stehen wir mitten im Niemals-Falschen, in der goldigen Mitte des „Elbflorenz“, der bürgerlichen Mitte. (Das Pfefferspray aus Plan C wurde zwecks Schutz von Kindern, Kleintieren und anderen Unbefugten in einem dafür geeigneten Behälter entsorgt.) In der „Menschenkette“, die in der Dresdner Innenstadt sowohl der Bombennacht vom 13. Februar gedenkt, werde ich bei der Frage, warum ausgerechnet in Ostdeutschland so viele rechtsradikale Überfälle zu verzeichnen sind, von einem ordentlichen Bürger brüsk als „Demagoge“ demaskiert. Was den angehenden Demagogen natürlich zu noch mehr Unsinn verleitet, etwa der These, die sich sozialwissenschaftlich belegen ließe, dass Fremdenfeindlichkeit gerade dort stattfindet, wo keine Fremden sind. Auf den Punkt gebracht: „Gibt es zu wenige Migranten in Dresden?“ – „Nee, auf gar keinen Fall“, schießt eine Frau mittleren Alters zurück. Die Personen, die ihr links und rechts die Hand zum Beistand halten, bekräftigen: „Ausländer haben wir genug.“ Goldig, und so unextrem, diese Mitte.
Eine halbe Stunde später versucht eine andere Dresdnerin einen Schriftzug zu entziffern, Buchstabe für Buchstabe: „s-h- Was steht da? o-a-h. Shoah.“ Der Schriftzug ist mit Papierbahnen auf dem Boden ausgelegt, Kerzen brennen darauf. Wir stehen vor einem anderen Mahnmal für die Bombennacht, dem vierten heute – der Frauenkirche. „Ist das, ist das Hebräisch?“, fragt, fast dialektfrei, die ordentlich gekleidete Frau: „Wer ist denn hier verantwortlich?“ Wir gehen auf den mutmaßlichen Verantwortlichen für dieses merkwürdige Shoah-Ding zu. Bereitwillig erklärt dieser – und es ist nicht das erste Mal, dass er dies tun muss: „Das ist Hebräisch und bedeutet wortwörtlich ‚Großes Elend‘, als Synonym für den Holocaust, für die Vernichtung der Juden.“ Ich frage die Frau, was sie denkt, warum dieses Wort hier steht. Die Dame zögert ein paar Sekunden, vielleicht ein paar Sekunden zu lang, um sich dann schleunigst mit der Bemerkung „Ich möchte eigentlich keine Stimme abgeben“ vom Acker zu machen. Moment mal, sehe ich aus wie ein Wahl-O-Mat oder was? Woher diese Angst, frage ich mich und sehe plötzlich die Debatte um 13. Februar, Rechte und Linke, Gedenken und Protest in einem anderen Licht – dem von Honnis Lampenpalast. Aus der Äußerung „Ich möchte eigentlich keine Stimme abgeben“ spricht die jahrzehntelange Förderung eines Charakters, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer einmal den autoritären nannten.
In meinem Stück für das Staatsschauspiel Dresden sitzen ein ehemaliges DDR-Schlagersternchen samt Managerpapa, eine „vertriebene“ Oberschlesierin und ein Opfer der SED-Diktatur in einem ähnlichen Bus wie Kollege Zaunmüller und ich, als wir nach Dresden kamen. Der Bus im Stück verunglückt, und die Organisation der Gegenwart lässt sich nicht lösen von einer Vergangenheit, die sich in Biografien eingeschrieben hat und stets aufs Neue alte Muster zutage treten lässt.
Mir fällt noch ein, der Ordnungsbürgermeister hat ausgespart, dass jene Transporte in die Konzentrationslager eben nicht fahren konnten, weil die Luftangriffe stattfanden. Aber darüber muss einen Dresdner doch niemand belehren …
Dirk Laucke wurde 1982 in Schkeuditz, Sachsen, geboren. Er gilt als einer der politischen Theaterautoren seiner Generation und erhielt den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI. Bekannt wurde er mit einem Stück über jugendliche Randfiguren ALTER FORD ESCORT DUNKELBLAU und seinem Theaterprojekt ULTRAS mit radikalen Fußballfans in Halle. 2009 wurde sein Stück FÜR ALLE REICHT ES NICHT am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.